Udo Baer, Gabriele Frick-Baer
Deine Würde entscheidet
Sachbuch, Beltz Verlag, 2018, 304 Seiten
Folgende Punkte findet ihr in diesem Beitrag:
Vom Ehepaar Udo Baer und Gabriele Frick-Baer habe ich schon so manches Buch gelesen.
Eines davon, „Das große Buch der Gefühle“findet ihr auch auf dem Blog.
In ihren Büchern fand ich stets wertvolle Impulse und mich begeistern das Wohlwollen und die Weisheit, mit denen sie an Menschen herantreten.
In diesem Buch geht es um „Würde“.
Wenn ich Udo Baer in Videos zuhöre, dann strahlt er für mich nicht nur eine angenehme Sanftheit und Ruhe aus, sondern auch eine würdevolle und würdigende Haltung.
Im Vergleich zu Gerald Hüthers Buch „Würde“ bereiten Udo Baer und Gabriele Frick-Baer dieses Thema ganz anders und wirklich wunderbar lebensnah auf, so dass sie es von der immer noch häufig abstrakten Ebene herunterholen und es auf eine praktische Art und Weise zugänglich machen.
Was bedeutet Würde?
Der Begriff der „Würde“ ist wohl kaum jemandem fremd.
Und gleichzeitig ist er doch oftmals auch abstrakt, nicht recht greifbar.
Was bedeutet Würde?
Manche verbinden diesen Begriff mit einer respekteinflößenden Haltung.
Manchmal heißt es auch, sie sei angeboren oder sie ist eine von Amts wegen übertragene Eigenschaft.
Würde ist bereits als Menschenrecht im Grundgesetzt verankert. „Die Würde ist unantastbar“ heißt es da.
Das besagt, dass wir alle in unserem Wert im Sein, als Mensch, gleich sind und das Recht haben, gleichwertig und gleichwürdig behandelt zu werden und leben zu dürfen.
Doch ist das wirklich so? Wie sieht das in der Realität, in der Umsetzung aus?
Im Duden wird Würde als ein Bewusstsein über den eigenen Wert beschrieben.
In diesem Buch geht es nicht um Würde, als ein politisches, literarisches oder philosophisches Konstrukt, sondern um Würde als einen Prozess – den Prozess der Würdigung.
Es geht um die persönliche Ebene von Würde, die immer im Kontext von Beziehungen steht.
Würde – eine Haltung, die Empathie, Selbstachtung und Wertschätzung als Eigenschaften so vereint, dass sowohl Wert und Eigensinn der eigenen Person als auch des Gegenübers bewusst bleiben,
und dass auch (die eigenen und die anderen) Grenzen bewusst sind und gewahrt werden.
„Würde ist kein Zustand, sondern vor allem ein Prozess.“ (S.25)
„Eine würdevolle Ausstrahlung ist verdichteter Ausdruck würdigender Beziehungserfahrungen“ (S.23)
Die Betonung liegt also vielmehr auf dem Verb würdigen, statt auf dem Substantiv Würde.
Würde findet nicht im Gesetz Ausdruck. Würde wird in Beziehungen gelebt!
Sie zeigt sich im Alltag in vielen kleinen Haltungen und Entscheidungen in unseren Beziehungen.
Das Würde-Ich
In würdigenden Beziehungserfahrungen findet sich ein Gleichgewicht in der Begegnung zwischen Würdigen und Gewürdigt-werden.
Solche Erfahrungen sind eng verknüpft mit dem Empfinden von Selbstwert und Selbstvertrauen.
Erfahren wir Wertschätzung, nährt dies unser eigenes Würdeempfinden, erfahren wir eine würdevolle Behandlung, stärkt es unser Selbstwertempfinden und das fördert wieder die Fähigkeit, selbst Beziehungen würdevoll zu gestalten.
Unterstützen kann uns dabei unser (von den Autoren so benanntes) „Würde-Ich“.
Dieses wohnt jedem Menschen inne und ist sozusagen unser Selbstwertkompass, der dabei hilft, Entscheidungen zu treffen.
Dieses Würde-Ich, der Kompass in der Beziehungsgestaltung und das Gefühl für die eigene Würde können verloren gehen.
Dann stehen dahinter Erfahrungen der Ent-Würdigung. Hier wird das Vertrauen in Menschen erschüttert.
Wird man nicht mehr als Subjekt, sondern als Objekt wahrgenommen, kann sich kaum Bewusstsein für den eigenen Selbstwert entwickeln und/ oder verändert sich das Selbstbild.
Bei Entwürdigungserfahrungen verändert sich das Selbstbild dahin, dass das Gefühl für die eigene Würde oder den eigenen Wert kaum bis nicht mehr vorkommt.
Manchmal wird das fehlende Wertgefühl dann auch über Leistung und die Orientierung im Außen kompensiert.
„Selbstabwertung ist nicht angeboren, sondern das Produkt von Entwürdigungserfahrungen.“ (S.86)
Ent-Würdigung
Die Autoren benennen vier „Monster der Entwürdigung“:
- Offensichtliche Gewalt jeglicher Form
- Beschämung (Worte, Blicke, Tonfall)
- Erniedrigung und Verrat
- Ignoranz und emotionale Leere/ Kälte
Baer und Frick-Baer betonen, dass besonders die letzten drei Punkte, bei denen es sich um Formen von emotionaler Gewalt handelt, besondere Aufmerksamkeit und Achtsamkeit fordern. Denn diese laufen häufig versteckt, subtil oder im Verborgenen ab, und es dauert oft lange Zeit, ehe sie von Betroffenen als Gewalt oder Manipulation erkannt werden. Die Auswirkungen sind jedoch nicht zu unterschätzen, da sie das Ich-Gefühl, Identität, Würdeempfinden und den Wesenskern in seinem ganzen Sein so nachhaltig erschüttern können, dass es mitunter ein langer Weg sein kann, wieder zu sich selbst zu finden.
Ging das Würde-Ich einmal verloren, meldet es sich nicht so einfach aus dem Nichts durch ein einzelnes Ereignis wieder.
Allein den Verlust zu bemerken, bedarf eines Prozesses. Und für das Wiederfinden, bedarf es einer Abfolge von Erfahrungen und Erkenntnissen und ein bisschen Spurensuche.
So betonen auch Udo Baer und Gabriele Frick-Baer, aus ihrem jahrelangen Erfahrungsschatz heraus, nachdem sie Menschen in Therapien und Traumaarbeit begleiteten, dass es in erster Linie korrigierende Erfahrungen braucht, um Selbstachtung wieder herzustellen.
Nur durch den Spiegel der Begegnung mit anderen Menschen, die mit wohlwollendem, sehendem Blick in Kontakt treten, kann Heilung entstehen, kann der Blick auf sich selbst wieder wohlwollend werden.
Und zugleich geht es auch immer darum, Entscheidungen zu treffen:
welche Konsequenzen hat es, wenn der Prozess der Würdigung Achtung finden möchte?
Wie wahre ich meine Würde und die anderer, wann und wie schütze ich mich, wann und wie trete ich ein für andere gegen Entwürdigung?
Wo lohnt es sich zu kämpfen, wo besser die Situation zu verlassen oder zu beenden?
Was ist ein Kompromiss, der Würde wahrt, was ist ein Kompromiss, der die Selbstachtung untergräbt?
Es geht also darum, achtsam zu werden und ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, wann es wichtig ist, Partei zu ergreifen bzw. für die eigenen Werte einzutreten.
Für solche Entscheidungsprozesse benötigt es nach dem Verlust des Würde-Ichs viele Teilerkenntnisse und -erfahrungen, vor allem würdigende Begegnungserfahrungen, um wieder ein Gespür für sich selbst und würdevolle Beziehungen zu bekommen.
Zurück zur Würde finden
Ob Körpersignale oder ein zaghaftes Gefühlsanklopfen (oftmals diffus, wie Unruhe, Gereiztheit oder auch das „Gefühl der Gefühllosigkeit“) – dahinter kann sich eine nicht beachtete, unterdrückte Entwürdigungserfahrung verbergen.
Es kann also zunächst hilfreich sein, die achtsame Beobachtung und das Gewahrsein der eigenen (Körper-)Empfindungen zu üben und diese ernst zu nehmen.
Der Weg, den das Autorenpaar als Richtung zeichnet, geht über folgende Schritte:
- sich bewusst werden, wo es passiert und (rechtzeitig) ernst nehmen, auch bei vermeintlich kleinen Dingen
- mit dem entstandenen Schmerz und der Trauer in neuen, würdigenden Beziehungen gesehen werden: korrigierende Erfahrungen machen in der Erfahrung von Würdigung der eigenen Verletzungen und
- zugleich Wertschätzung erfahren für eine Wiederherstellung von (Selbst-)Vertrauen und Re-Orientierung des Selbstbildes
- Nein sagen zu Umständen und Personen, die entwürdigen, das Umfeld verlassen, in dem Verletzungen geschehen
Ist die Würde einmal verloren gegangen und hat der Prozess des Zurückfindens begonnen, wird sich früher oder später auch eine besondere Art der Trauer einstellen:
Die Trauer über verlorene Zeit, Trauer über das nicht-gel(i)ebte Leben, in dem echte Lebendigkeit und Verbundenheit verloren ging,
die Trauer über unwiederbringlich verloren gegangene Lebensjahre und Träume oder unterdrückte Sehnsüchte.
Auch dieser Trauerprozess kann Teil des Heilungswegs sein.
Buch: „Deine Würde entscheidet“ – individuelle und gesellschaftliche Prozesse
Udo Baer und Gabriele Frick-Baer zeigen in ihrem Buch „Deine Würde entscheidet“, dass Würde und damit die Erfahrung sowie die Gestaltung von würdevollen Begegnungen ein wechselseitiger Prozess ist, der sich im Kontext von Beziehungen, in gelebten Beziehungen entfaltet.
Das Autorenpaar verdeutlicht wie sich gelebte und nicht gelebte Würde und Würdigung in verschiedensten Lebensbereichen äußern können: in Partnerschaften, Elternschaft, im Berufsleben, bei Krankheit und Behinderung, im Alter, in der Pflege und in der Arbeit von Pflegekräften, im Umgang mit Mobbing und Entwürdigung unter Kindern und welche möglichen Entscheidungen sich daraus ergeben könnten, um das Würde-Ich in Aktion zu bringen.
In zahlreichen Beispielen wird erläutert, auf welche (versteckten) Hinweise wir achten können, die uns sagen, dass es Zeit ist, das sog. Würde-Ich, den inneren Würdekompass, zu befragen und welche Zusammenhänge zwischen Würde und Selbstachtung bestehen.
Einfühlsam wird darauf eingegangen, durch welche (oftmals subtile und versteckte) Erfahrungen das eigene Würdeempfinden erschüttert oder verloren gehen kann und welche möglichen Prozessschritte es gibt, um nach Entwürdigungserfahrungen wieder zurück zur eigenen Identität und zu würdevollen Begegnungsqualitäten zu finden.
Als Kreative Leib- bzw. TraumatherapeutInnen beziehen beide auch klar Stellung, wenn es um eine Kultur der Würde in Gesellschaft und Politik geht:
Denn auch wenn die Würde als unantastbar im Grundgesetz verankert ist, so sehen wir doch tagtäglich, dass dies nicht gelebt wird.
In der Öffentlichkeit wird Entwürdigung von Menschen noch viel zu häufig geduldet.
Da gilt es laut zu werden und sich klar zu positionieren, fordern die Autoren.
Und mit Recht: Beschämung wird akzeptiert und in privaten und öffentlichen Medien, in sozialen Netzwerken herrscht eine Kultur der Belustigung oder Diffamierung.
Zugleich leben wir in einer Scheinwelt, in Parallelwelten, wo manchmal Fake und Wahrheit nicht mehr auseinanderzuhalten sind, sich vermischen.
Auch gesellschaftliche und familiäre Scheinwelten, die tabuisieren oder Gewalt verharmlosen verletzen und entwürdigen.
Themen wie sexualisierte Gewalt oder Unterdrückung von Minderheiten gelangen zwar mehr an die Öffentlichkeit, dennoch herrscht in der Gesellschaft eben doch noch überwiegend eine Kultur des Wegschauens.
So lässt sich z.B. in der Art von Berichterstattungen oder im Polizei- und Rechtswesen häufig eine täterzentrierte Haltung beobachten.
Entscheidungen, die oftmals zu Gunsten der Täter ausfallen, dass Betroffenen von Gewalt nicht geglaubt wird oder eine ausufernde, niederschmetternde Beweispflicht entwürdigen nicht nur,
sondern erschweren auch den Weg der Heilung, der Wiederherstellung der Würde.
Die Kultur des Wegschauens zieht sich durch alle denkbaren Bereiche, vom privaten Umfeld bis hin in die Politik.
Als engagierte Gründer bzw. Gründerin der Stiftung Würde setzen Baer & Frick-Baer ein deutliches Zeichen und weisen darauf hin, dass noch viel Änderungsbedarf besteht.
Fazit
„Deine Würde entscheidet“ – mit diesem Buch gehen Udo Baer und Gabriele Frick-Baer das oftmals abstrakte Thema „Würde und Würdigung“ ganz praktisch an, indem sie mit zahlreichen Beispielen aufzeigen, wie sich Würde- und (Ent-)Würdigungserfahrungen in unserem Alltag und unserer Lebenswirklichkeit widerspiegeln und wie wir zu mehr würdigenden Beziehungserfahrungen in unserem Leben finden können.
Bücher

Jesper Juul prägte den Begriff der Gleichwürdigkeit und setzte sich mit seinem Lebenswerk für eine gleichwürdige Beziehungsgestaltung in Familien und insbesondere zwischen Erwachsenen und Kindern/Jugendlichen ein.
Hier findest du mehr dazu in einem Beitrag auf dem Blog.

Bindung und emotionale Gewalt (Hrsg. Karl Heinz Brisch) Klett-Cotta, 2017, 309 Seiten
Verschiedene Beiträge von Autor:Innen über Studien und Erkenntnisse zum Thema emotionale Gewalt aus den Bereichen Klinik, Forschung und Prävention.