Stresstoleranzfenster und Gefühle
Die Größe des Stresstoleranzfensters, also das Maß an empfundener Sicherheit, in dem Erregung gut und in Balance gehalten werden kann, ist individuell und wird geprägt durch frühe Erfahrungen von empfundener Sicherheit oder Bedrohung.
Sind wir im Stresstoleranzfenster, dann können wir Ereignisse gut verarbeiten, sind aufnahmefähig und handlungsfähig.
Ein großes Toleranzfenster befähigt mehr Erregung, also mehr Gefühle und auch mehr Stress halten zu können.
Ein kleines Fenster kann dazu führen, dass wir mit unerwarteten Ereignissen und Erregung im Körper weniger gut umgehen können. Wir geraten dann schneller außerhalb des Toleranzbereichs und außerhalb unseres Ressourcenbereichs.
Hier sind wir in unserer Selbstregulationsfähigkeit eingeschränkt.
Das betrifft nicht nur die Gefühle, die häufig als unangenehm oder „unerwünscht“ empfunden werden.
Dies kann auch heißen, dass wir die mit einer höheren Erregung verknüpften, gemeinhin als wünschenswert wahrgenommenen Gefühle, weniger gut regulieren können, bzw. dass unser Organismus auch „positive“ Gefühle schneller als unangenehm empfindet, wie z.B. grosse Freude, Nähe, Liebe, Wohlwollen, Wertschätzung, eine schwingungsfähige, freundliche, zugewandte Stimme oder einen liebenden Blick.
Wenn unser Gehirn die Empfindungen eines Erregungszustands einmal mit Gefahr verknüpft hat, kann es sein, dass wir nicht nur „unangenehme“ Gefühle weniger gut regulieren können, sondern auch „angenehme“ Gefühle schnell „zu viel“ werden.
z.B. Freude, Nähe, Liebe, Wohlwollen, Wertschätzung, Zugewandtheit, eine freundliche Stimme, ein liebender Blick, aber auch Ruhe und Entspannung.
Vielleicht ist unser Nervensystem ständig in einem Alarmmodus, weil es einmal gelernt hat, dass es jederzeit gefährlich werden kann. Dann fühlt sich ein Zustand chronischer Übererregung vertraut an (= sicherer, jederzeit bereit zu Kampf/Flucht).
Oder wir benötigen diesen zum Kompensieren von belastenden Gefühlen, so dass wir uns in ständiger Aktivität halten müssen. Dann können sich Ruhe und Entspannung schnell unangenehm anfühlen.
Vielleicht wurden wir aber auch von unserer (untererregten) Bezugsperson kaum hochreguliert und aktiviert.
Oder aber wir wurden zwar aktiviert, aber anschließend nicht wieder herunterreguliert (fehlende Feinfühligkeit), so dass wir eine hohe Erregung nicht regulieren lernen konnten.
Vielleicht, haben wir durch fehlende oder verletzende Bindungserfahrungen gelernt, dass wir in einer hohen Erregung allein blieben, eine hohe Aktivierung nicht erwünscht ist oder mit Beschämung/Zensur einherging („sei nicht so überschwänglich“, „spiel doch endlich mal leiser“, „Wut darf nicht sein“, „Stell dich nicht so an!“ usw.)
Vielleicht sogar, dass Freude, Nähe, Vertrautheit etc. gefährlich oder „trügerisch“ sind, weil sie unweigerlich in eine Enttäuschung, Verletzung oder Bestrafung mündeten oder danach etwas Schlimmes passierte.
Zudem kann es sein, dass unser Gehirn eine hohe sympathische Erregung (und die autonomen Körperreaktionen dazu) einmal in anderen Situationen mit Gefahr verknüpft hat (vgl. sexuelle Erregung oder auch Herzklopfen/flauer Magen sowohl bei positiver Aufregung/Verliebtsein als auch Angst/Panik) und uns nun schützen will.
Dann kann es sein, dass die Spanne des Erregungsniveaus, in dem wir uns sicher fühlen, die Breite unseres Toleranzfensters also, eingeschränkt ist, um uns zu schützen vor erneuter Verletzung, Zurückweisung oder Überwältigung.
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