Sif Sigmarsdóttir
Das dunkle Flüstern der Schneeflocken
(Roman, Loewe, 2020, 432 Seiten)
Nordic-Noir, Island, Instagram, metoo: Wieviel Wahrheit verträgt der Mensch?
Worum geht es?
Hannah und Imogen, zwei junge Mädchen an der Schwelle zum Erwachsenendasein, die eher unfreiwillig in Island landen. Beide stehen an Wendepunkten ihres Lebens. Hannah, die nach dem Tod ihrer Mutter zur neuen Familie ihres Vaters zieht. Imogen, die erfolgreiche Influencerin, die im Auftrag einer Marketingagentur von Großbritannien aus zu einem Datenforschungsunternehmen nach Island reist, um Informationen für psychologisch basierte Werbung einzuholen.
Doch dann geschieht ein Mord und plötzlich steht Imogen unter Verdacht. Während alle Welt an die Schuld der unnahbaren Influencerin glaubt, wird Hannah, die ein journalistisches Praktikum absolviert, ganz unerwartet in den Fall verwickelt. Sie glaubt, dass es hinter der Fassade noch eine ganz andere Imogen gibt, als die selbstbewusste Instagram-Queen …
Ein überraschender Plot mit psychologischer Dimension
Das Cover könnte passender nicht sein: ganz im Stil von Instagram, dabei beinah unsichtbar und doch Hingucker zugleich.
„Das dunkle Flüstern der Schneeflocken“ entführt ins verschneite Island und in großen Teilen schwingen auch Gefühle von Einsamkeit und Melancholie mit.
Die Geschichte beginnt leise und unauffällig, entfaltet sich langsam und entwickelt dann eine regelrechte Sogwirkung. Wir verfolgen abwechselnd die Wege von Hannah bzw. Imogen, bis sie schließlich zusammenführen. Instagram spielt natürlich auch eine Rolle, doch entfaltet sich schon bald ein viel größerer Plot, als es Klappentext und der Beginn zunächst erahnen lassen.
Ich bin hin und weg vom Aufbau und der psychologischen Dimension und der Entwicklung der Ereignisse, denn gerade zum Ende hin gab es einige unerwartete Wendungen.
„Das dunkle Flüstern der Schneeflocken“ war für mich weniger ein Thriller, als eine psychologisch komplexe und klug arrangierte Geschichte, die viele wichtige Themen vereint – Themen, die nicht nur bei der Nutzung von Social Media mitschwingen. Es geht um den Wunsch nach Anerkennung, um den Wunsch nach Zugehörigkeit und die Suche nach Identität, es geht um Gefühle von Einsamkeit, Scham, Angst, Hilflosigkeit. Es geht um Selbstfindung, aber auch um sexuelle Übergriffe. Es geht um Datenforschung und psychologisch basierte Werbung, um unethischen Journalismus, um Machtstrukturen und machtpolitische Interessensebenen.
Alles drehte sich im Kern um die Frage: wieviel Fakt, wieviel Wahrheit verträgt der Mensch und wieviel „Fake“, wieviel Fassade ist wirklich gut für uns?
Der Roman spielt mit der Zerrissenheit von uns Menschen, mit den psychologischen Gegensätzen im Menschen.
Er eröffnet das weite Feld
zwischen eigenen Schwächen und traumatischen Erfahrungen,
zwischen dem Wunsch nach Zugehörigkeit durch (kleine oder große) Notlügen und dem Wunsch nach Integrität und Vertrauen,
zwischen dem Wunsch nach Sichtbarkeit und den Zweifeln daran,
zwischen Authentizität und wirtschaftlichen Interessen,
zwischen (ethischen) Werten und Profitgier.
Ganz schön viele Themen für einen Jugendroman – und dennoch war er keinesweg überfrachtet, denn alles war so klug aufgebaut und ineinander verwoben, dass es ein wirklicher Page-Turner für mich wurde. Das Lesealter ab 14 ist durchaus angemessen, auch mit der politischen Ebene bleibt es ein Roman, der für Jugendliche gut zugänglich ist, der aber auch seinen Reiz für Erwachsene beibehält.
Der schmale Grat: Wahrheit oder Lüge?
Im Mittelpunkt steht stets der (manchmal allzu schmale) Grat zwischen Offenheit und Stillschweigen, Wahrheit und Lüge, Fake und Fakt bzw. No-Filter, Fassade und Echtheit.
Wo ist die Grenze für Notlügen? Welche Motive stehen hinter Notlügen aus Scham, Angst, Notlügen für die eigene Sicherheit, für die Sicherheit der Liebsten und sind sie zu rechtfertigen?
Wem dient die Wahrheit? Und ist Schweigen manchmal der bessere Weg? Doch wem nützt das Schweigen wirklich? Vielleicht sogar den Falschen?
Auf Social Media ist nicht immer alles so, wie es scheint, und doch lassen wir uns allzu häufig blenden. Aber auch im „echten“ Leben, in Familien bis zur Politik, kann es sein, dass lieber vertuscht verdreht, geleugnet oder beschönigt wird, und nicht immer allen Beteiligten klar ist, welche Mechanismen zum Schutz Einzelner aktiv sind, dass nicht immer zu durchschauen ist, wer die Fäden zieht, was echt ist, wo vielleicht manipuliert wird – und wer den Preis dafür zahlt. Mich erinnerte die Geschichte sogar ganz im Entfernten an den Fall Julian Assange.
Eine Notlüge macht einsam – die Wahrheit manchmal auch
Die Wahrheit ist nicht immer beliebt. Sichtbarkeit jederzeit für alle ist auch nicht immer angemessen. Das kann zu inneren Konflikten und Zerrissenheit führen. Doch, was, wenn andere die Augen vor der Wahrheit verschließen?
Notlügen können im ersten Moment ein Gefühl von Zugehörigkeit erzeugen, am Ende jedoch ein bitteres Gefühl von Einsamkeit hinterlassen.
Und die Wahrheit?
Wenn die anderen dann die Augen vor der Wahrheit verschließen und einzelne ausgrenzen, weil etwas angesprochen wurde, was unerwünscht ist, was nicht „sein darf“?
Macht die Wahrheit hier nicht auch einsam?
Doch was wäre der Preis, sie zu vertuschen?
Wie hoch ist der Preis, die eigene Identität zu verbergen, das eigene Wohl?
Steht das Wohl von Einzelnen höher als das Wohl der Masse oder umgekehrt?
Wo verlaufen die Grenzen der persönlichen Integrität und der eigenen Sicherheit ganz genau?
Die Antworten bleiben offen, und sicher kann man sich auch ohne große Gedanken zu diesen Fragen durch die Geschichte bewegen, doch bei mir hat „Das dunkle Flüstern der Schneeflocken“ gerade wegen dieser psychologisch-ethischen Komponente einen besonderen Eindruck hinterlassen!
Fazit
„Das dunkle Flüstern der Schneeflocken“ ist ein Nordic-Noir-Jugendthriller, der gekonnt zahlreiche Themen miteinander verwebt, ohne dabei überladen oder übertrieben zu wirken.
In ruhiger, melancholischer Atmosphäre und Islandstimmung werden Instagram und Social Media, Identitätsfindung und Vertrauen(sbrüche) in Beziehungen, #metoo, Datenforschung und psychologisch basierte Werbung, wirtschaftliche und politische Machenschaften so klug eingebunden in die Aufklärung eines Mordfalls, dass er eine regelrechte Sogwirkung entwickelt.
Aufbau und Entfaltung der Story mit überraschenden Wendungen der Ereignisse waren für mich vor allem in Kombination mit der psychologisch-ethischen Dimension beeindruckend.
Denn das Besondere liegt im zweiten Blick: innerhalb des Geschehens wird nämlich vor allem eine psychologische Ebene beleuchtet, die komplexe Fragestellungen aufwirft über den manchmal schmalen Grat zwischen Wahrheit, Notlügen und Schweigen.
Ein Buch, das auch noch über die Story hinaus einen Eindruck hinterließ und mich nachdenklich stimmte.
Hallo, ich freue mich über diese Rezension! Du hast mich sehr neugierig auf das Buch gemacht, das mir bisher vollkommen unbekannt war.
Zeilentänzerin
Hallo Zeilentänzerin:), vielen Dank für deinen Kommentar!
Das freut mich natürlich, wenn ich dich neugierig machen konnte;)
Lg, Kathrin