Dami Charf
Auch alte Wunden können heilen
(Sachbuch, Kösel Verlag, 2018, 288 Seiten)
„Das fehlende Puzzlestück ist nicht die Lösung von Problemen und auch nicht die Behandlung von Symptomen. (…) Die Ursache für das Leiden liegt jenseits unserer Muster und Glaubenssätze. (…) Die Ursache für das Leid liegt tief in unserem Körper.“ (S. 12)
Dami Charfs Bücher richten sich an alle Menschen, die merken, dass sie eine Sehnsucht nach Veränderung haben.
Dabei ist es nicht entscheidend, ob traumatische Ereignisse oder ähnlich belastende Erfahrungen erinnert werden oder in unserer bewussten Biografie vorhanden sind. Manchmal ordnen wir auch Erfahrungen oberflächlich als „belanglos“ ein, weil sie uns vielleicht als „normal“ erscheinen, unser Körper zeigte aber andere Reaktionen. Scheinbar belanglose Kindheitserfahrungen können bereits sehr prägend wirken, ohne dass ihre Bedeutung für den Körper wahrgenommen wurde.
Es ist vor allem der Körper, in dem unsere Erfahrungen abgespeichert bleiben, z.B. als Spannungsmuster und daraus resultierende Reaktionsschemata.
Zudem wird der Begriff Trauma gesellschaftlich oftmals weitgehend mit einem einmaligen Schocktrauma assoziiert, Entwicklungstrauma, das von bedrohlichen Geburtserfahrungen, schwierigen Operationen und Krankenhausaufenthalten im Kleinkindalter bis hin zu langjährigen komplexen Bindungstraumata aller Art reicht, ist wenig im Blickfeld.
Worum geht es?
Dami zeigt auf, warum unsere Biografie und insbesondere unsere Beziehungserfahrungen in den ersten Lebensjahren so richtungsweisend für unseren weiteren Lebensweg sind: sie legen eine Art Blaupause in unserem Gehirn ab, die dann über unsere Lebensspanne hinweg, solange sie unbewusst bleiben, in unseren künftigen Emotions- und Reaktionsmustern eine zentrale Rolle spielen.
Dami macht deutlich, wie Verletzungen aus der Kindheit unser Leben bestimmen und wie wir uns davon lösen können.
Dabei bedeutet Heilung aber nicht „narbenfrei vergessen“, sondern Integration.
Das heißt, dass im Inneren eine Expansion stattfindet, die den gesamten Organismus auf allen Ebenen (Körper, Geist, Seele) so mit einbezieht, dass wieder so viel Raum entsteht, frei, lebendig und gleichzeitig verbunden mit sich und dem Leben auf Erfahrungen antworten zu können, statt mit reaktiven Mustern.
Zunächst geht es im Buch darum, zu verstehen, wie sich Erfahrungen auf unseren Organismus auswirken. Dabei werden die Nervensystemzustände von sympathischer Erregung und parasympathischer Entspannung, die Phänomene der Übererregung, der Untererregung bis hin zur Erstarrung und was es mit dem sog. „Window of Tolerance“ auf sich hat, besprochen.
Unsere frühen Bindungserfahrungen beeinflussen die Bindungsfähigkeit oder auch die Bindungsqualität in unserem Erwachsenenleben sowie die Fähigkeit zur Selbstregulation.
Dami erläutert welche Bindungsmuster es gibt, wie sie entstehen und warum sie im Lauf unseres Lebens so stabil konstant bleiben und zu Reinszenierungen alter Erfahrungen führen können.
Es werden die fünf wichtigen Phasen in unserer Entwicklung vorgestellt (Sicherheit und Willkommensein, Bedürfnisse und Sattwerden, Hilfe annehmen können, Selbstständigkeit und Verbundenheit, Liebe und Sexualität), in denen entscheidende Schritte erfolgen sollten, um später ein gesundes und lebendiges Leben in Freiheit und gleichzeitiger Verbundenheit führen zu können. Hierbei werden die damit verbundenen Lernaufgaben beschrieben und was passiert, wenn sie ausbleiben.
Anschließend geht es um posttraumatisches Wachstum, also um eine gelungene Traumaintegration.
Dazu zählen die oben erwähnte Annäherung an den Körper und seine Signale wieder zu spüren, genauso wie die Entwicklung einer gesunden Selbstregulationsfähigkeit (Emotionsregulation) als auch die Stärkung der Kontakt- und Beziehungsfähigkeit.
Hierbei wird auch Bezug auf neurowissenschaftliche Prozesse bei der Gedächtnisleistung und Informationsverarbeitung im Gehirn genommen, Dissoziation, sowie die verschiedenen Erlebnisebenen (vgl. SIBAM, Peter Levine), aus denen sich Erfahrungen zusammensetzen.
Weitere Themen sind Resilienz, das häufig tabuisierte Gefühl der Scham sowie Grenzen und Sicherheit.
Als Befürworterin der beziehungsorientierten Therapie stellt Dami Charf heraus, welche Bedeutung Co-Regulation durch eine empathische, tragfähige, menschlich nahbare Beziehung für ein Kleinkind bis hin zum Erwachsenen – und gerade auch im therapeutischen Setting – hat, nicht nur emotional, sondern gerade auch auf der Körperebene.
Denn wie sehr unser soziales Kontaktsystem (ventraler Vagusnervzweig, vgl. Stephen Porges) in einem Heilungsprozess auf ein mitfühlendes Gegenüber angewiesen ist und wie sehr es uns auch generell in unseren Beziehungen prägt, von der Entwicklung bis hin zu später gelingenden Beziehungen, wird noch weitgehend unterschätzt.
Ebenso werden in unserem Körper Erfahrungen und damit einhergehende Emotionen als Spannungsmuster mit entsprechenden Reaktionsschemata abgespeichert.
Das kann uns nämlich dabei helfen, frei und verbunden mit uns selbst, auf Erfahrungen und in Beziehungen zu antworten, statt in reaktive Muster zu verfallen.
Dami Charfs Arbeit ist Pionierarbeit.
Ich glaube, wir werden noch viel über das Nervensystem und seine Bedeutung für unser Miteinander und das Verständnis unseres Seins hören, denn die Forschung steht hier noch am Anfang.
„Auch alte Wunden können heilen“ gibt einen ersten sehr gehaltvollen und dabei leicht verständlichen Einblick in die Thematik und ist eine große Empfehlung!
Mehr von Dami Charf auf: www.traumaheilung.de
Weitere Beiträge von mir zur Arbeit von Dami Charf:
Dami Charfs wegweisende Arbeit