Über die Bedeutung von Berührung:
Human Touch –
Rebecca Böhme
Sachbuch, C.H. Beck, 2019, 192 Seiten
„Der Mensch ist ein Kontaktwesen, Streicheln kein Luxus, sondern Überlebensmittel.“
Im Zeitalter von Smartphones und Touchpads fällt Berührungen eine ganz neue Art von Bedeutung zu.
Doch wie beeinflusst das die Qualität von Berührung in Beziehungen?
Welche Rolle spielen Berührungen im Kontakt überhaupt?
Zum Tastsinn und zu Berührung habe ich auf dem Blog bereits vor einiger Zeit zwei Bücher vorgestellt:
Homo Hapticus (Wissenschaftsbuch des Jahres 2018 in der Kategorie Medizin/ Biologie)
und Wie Berührung hilft
Auch in „Human Touch“ dreht sich alles um Berührungen.
Doch diesmal steht eine Frau dahinter und das allein ist schon Grund, es hier als ein weiteres Buch zum Thema zu erwähnen, denn im wissenschaftlichen Bereich werden die Werke von Autorinnen immer noch viel zu wenig beachtet.
Und auch diese Lektüre macht wieder einmal mehr deutlich, wie essentiell Berührungen für unser Dasein sind!
Liebevolle Berührungen – ein elementares Grundbedürfnis
Wenn wir an liebevolle Berührungen denken – kommen uns gewöhnlich als erstes Gedanken an verliebte Paare oder an die einfühlsame Zuwendung von Eltern zu ihrem Kind in den Sinn.
Gemeinhin sind liebevolle Berührungen gesellschaftlich überwiegend in romantischen Beziehungen akzeptiert.
Oftmals werden sie in ihrer Bedeutung sexualisiert.
Mit deutlich sichtbaren Bekundungen von Sympathie durch Berührung sind wir in der Öffentlichkeit eher zurückhaltend. Sie gelten als unangemessen.
Berührungen finden eher aus Formalität statt (Begrüßung), doch bereits in Freundschaften bleibt es häufig bei flüchtigen Berührungen.
Beobachtet man Kinder, stellt man fest, dass sie sich noch sehr oft berühren.
Diese Leichtigkeit und Selbstverständlichkeit gehen jedoch im Lauf des Erwachsenwerdens verloren.
Dabei haben nicht nur die Kleinen ein Bedürfnis nach Nähe, nicht nur Paare, sondern es liegt in unserer Natur als Mensch, dass wir Berührungen brauchen.
Ob Berührungen als angenehm oder unangenehm empfunden werden, das hängt zwar mit dem kulturellen Hintergrund, Rollenvorstellungen, der Beziehungsart und der persönlichen Geschichte zusammen.
Doch für uns als Menschen und soziale Wesen gehört das Bedürfnis nach Berührung zu unserem Wesenskern.
Liebevolle Berührungen geben das Gefühl von Trost, Sicherheit, Zuneigung, Halt, Mitgefühl und Zugehörigkeit, usw.
Liebevolle Berührungen reduzieren Stress, senken den Blutdruck und gleichen unser Hormon- und Immunsystem besser aus.
Ein Mangel an Berührung jedoch kann krank machen.
Säuglinge können nicht überleben ohne Berührungen, wenn sie ausbleiben sterben sie.
Sie regulieren ihr Nervensystem nämlich ausschließlich über physiologische Reize.
Und bis ins hohe Alter hinein bleibt der körperliche Kontakt essentiell wichtig für unsere Gesundheit.
Als Erwachsene können wir unser Bedürfnis nach Berührung zwar eine gewisse Zeit unterdrücken, ist dies jedoch länger der Fall, geht das nur auf Kosten der Verbindung zu uns selbst und unserer Empfindsamkeit, denn Bindungsbedürfnisse zu verdrängen bedeutet auch ein gewisses Maß an Lebendigkeit und Selbstgefühl zu verlieren. Zuletzt leidet auch die Beziehungsqualität darunter.
Berührung ist der früheste und wichtigste Weg über den wir zu Beginn unseres Lebens in Kontakt treten, Verbindung spüren und erfahren und über den wir reguliert werden können.
Liebevolle Berührungen regulieren uns emotional und physiologisch.
Sie aktivieren unser Selbstwert- und unser Zugehörigkeitsempfinden.
Sie aktivieren unseren ventralen Vagusnerv, den Teil des autonomen Nervensystems, der für unser Sicherheitsempfinden, innere Stabilität und Verbundenheit sorgt.
Diese Bedeutung bleibt ein Leben lang erhalten.
Begegnungsqualitäten
Spätestens seit Corona wissen wir: es genügt nicht, uns am Bildschirm zu sehen oder am Telefon zu sprechen, ein virtueller Kontakt kann einen echten Kontakt nicht ersetzen.
Wir kommunizieren zu einem großen Teil nonverbal, über Mimik, Blick, Haltung, und Gestik transportieren wir mehr und nehmen mehr auf, als wir uns oftmals bewusst sind. Wie wichtig dieser Kanal ist, um Emotionen und Mitgefühl auszudrücken, zeigt sich auch darin, dass im digitalen Bereich Emojis nicht mehr wegzudenken sind. Echte Nähe und Verbindung gehen bei leiblicher Präsenz tiefer.
Berührungen weiten die Begegnungsqualität. Herzlich zu sein und körperlich distanziert – wenn wir uns das bildlich vorstellen, dann merken wir schon, das schließt sich aus!
Schon nach der Geburt erleben wir die ersten Interaktionen mit Menschen überhaupt durch Berührung. Babys (und auch Eltern) stellen erste Bindung über Berührung her. Mittlerweile ist bekannt, das Stillen und vor allem Hautkontakt in den ersten Lebensjahren und insbesondere nach der Geburt die Bindung fördert und Babys, die viel und lange getragen statt häufig in der Babyschale abgelegt werden, langfristig emotional stabiler und ausgeglichener, ja sogar kognitiv besser entwickelt sind. Berührung gibt Sicherheit, nachdem wir von der Geborgenheit des uns umgebenden Fruchtwassers in einen „Raum ohne Halt“ hineingeboren werden.
Berührungen helfen Beziehungen zu einer Vertrautheit und emotionalen Nähe, die durch Sprache nicht hergestellt werden kann. Oder eben zu Beginn des Lebens, wenn Sprache noch nicht ausreicht, noch nicht voll entwickelt ist.
Selbstkonzept
Während unser Tastsinn für die Erkundung und Erforschung der Welt sorgt, dienen Berührungen im Kontakt zu anderen Wesen der Wahrnehmung unseres ureigenen und sozialen Selbst. Berührungsempfindungen dieser Art werden nicht dem Tastsinnes-System zugeordnet, sondern der Interozeption, also der Wahrnehmung und Verarbeitung körpereigener Signale, zumal ihre Verarbeitung im Rückenmark anderer Natur sind.
- Berührung ist elementar für die Entwicklung eines (körperlichen) Selbstkonzepts: das bin ich, da höre ich auf, das ist meine Grenze und das bist du, da fängst du an.
- Berührung ist elementar für die Entwicklung des sozialen Selbst: Welche Berührung ist angenehm? Wer darf mich wie und wann berühren? Wie fühle ich mich, wenn ich berührt werde oder wenn Berührung ausbleibt? Wo sind meine Grenzen, wo die der anderen? Wie reguliere ich Nähe-Distanz? Gehöre ich dazu, bin ich in der Bindung sicher? Was kommuniziert das Gegenüber? usw.
- Berührungserfahrungen sind essentiell, um etwas über Mitgefühl zu lernen: Mitgefühl zu empfinden und Mitgefühl zu zeigen.
- (Selbst-)Berührungen beruhigen uns und aktivieren unser parasympathisches Nervensystem (Entspannung). Wir spüren uns dadurch wieder mehr, können uns besser mit uns selbst verbinden, erden, (anstatt z.B. in Nervosität zu sehr im Kopf zu sein).
Berührung und Traumatherapie
(Ergänzung – wird nicht im Buch thematisiert)
Selbstberührung und das Erspüren von Körperempfindungen spielen auch in der körperorientierten Psychotherapie bei Trauma-Erfahrungen eine wesentliche Rolle.
Denn solche Erfahrungen führen dazu, dass Körperempfindungen vom Nervensystem schnell als gefährlich eingestuft werden.
Sie werden künftig entweder dissoziiert, d.h. der Körper und die meisten seiner von innen kommenden Signale werden nicht mehr bzw. kaum bewusst wahrgenommen.
Sie werden in der in der Verarbeitung im Gehirn „abgespalten“.
Oder aber die Signale werden als vollkommen überwältigend/ überflutend wahrgenommen (oftmals besteht auch eine Kombination aus Überflutung bzw. Dissoziation zu unterschiedlichen Zeitpunkten).
Der Körper wird in der Folge aber in jedem Fall nicht (mehr) angemessen bewohnt und gespürt, er wurde vom Nervensystem als Ort der Gefahr registriert.
Das bringt zahlreiche Folgen mit sich, wie den Verlust von Halt und Orientierung, von Grenzgefühl und Ich-Gefühl, das Gefühl von Überwältigung und/ oder eine generellen Dämpfung von Gefühlen, z.B. Freude, Trauer, Wut, Selbstannahme, Selbstmitgefühl, usw.
Es geht also um den Verlust des eigenen sozialen und körperlichen Selbstkonzepts.
Durch das bewusste Berühren und Spüren der eigenen Körpergrenzen und das Empfinden nach Innen kann wieder ein Zugang zu einem Ich-Gefühl, zu eigenem Containment (innerem Halt), zu mehr Regulation und auch mehr Pulsation (Erweitern und Toleranz der Schwingungsfähigkeit, der Gefühlspalette), Selbstmitgefühl und schließlich auch ein Gefühl für die eigenen Grenzen und Würde hergestellt werden.
Durch sog. Embodiment kann das Vertrauen in den eigenen Körper und seine Signale wieder aufgebaut werden.
Fazit:
Human Touch ist eine leichte Lektüre über das Bedürfnis nach Berührung.
Die Neurowissenschaftlerin Rebecca Böhme untersucht, welche Bedeutung Berührungen gesellschaftlich als auch für uns als Individuum haben,
wie deren Rolle in der Öffentlichkeit, in Freundschaften und Partnerschaften wahrgenommen wird,
wie Berührungen auf unseren Körper und unser psychisches Empfinden wirken, angefangen von der Geburt und unseren ersten Lebensjahren bis ins hohe Alter.
Sie thematisiert Kuschelpartys, Haustiere als Kuschelpartner, Berührungen im Kontext von (psychischen) Erkrankungen und Heilberufen (viele alternative Heilmethoden arbeiten mit Berührung)
und stellt die Frage, ob unser Umgang mit Berührungen gesund, ausreichend oder ausbaufähig ist.
Das Buch liest sich sehr schnell.
Obwohl einige Aspekte naheliegend oder bereits bekannt sind, inspiriert und motiviert es dennoch, dem Themenfeld Berührung mit mehr Achtsamkeit zu begegnen.
Besonders die letzten Kapitel werden zunehmend interessanter, beleuchten sie hier doch die Lücke in einer berührungsdistanzierten Gesellschaft und was dies für Singles, die Pflege im Alter und für Pflegende bedeutet.
Auch stellt die Autorin Überlegungen dazu an, wie sich Fernbeziehungen, das digitale Zeitalter und die Smartphonenutzung aktuell und künftig auf unsere Berührungsempfindungen und -möglichkeiten und damit Beziehungsqualitäten auswirken (könnten).
„Human Touch“ ist eine kleine, unterhaltsame Lektüre, die anregt, über den Wert von Berührung neu nachzudenken und Berührung und Beziehung bewusst zu gestalten.
Videotipps:
- Über die Bedeutung von Berührung und Körperkontakt:
Dami Charf (Traumatherapeutin)
- Über Sexualität und Berührung:
Ein sehr wertschätzendes und offenes Interview von Dami Charf mit Andrea Silwanus (Expertin für Berührung und sinnliche Körpererfahrung)
Hallo du Liebe!
Da hast du in der letzten Zeit ja einige interessante Bücher aufgetan. Das Buch hier habe ich mir gleich mal notiert. Früher habe ich viel über Berührung/Körper gelesen, aber das ist lange her.
Interessant, dass es nicht unter den Tastsinn fällt. Das wusste ich bisher noch nicht.
Ich hatte mir kürzlich „Worüber wir nicht sprechen sollen – es jetzt aber trotzdem tun: Ein Manifest über den weiblichen Körper“ gekauft. Vielleicht ist das ja auch was für dich. Der Anfang liest sich recht leicht.
Liebe Grüße
Petrissa
Hey du Liebe, schön dich wieder mal hier zu lesen;)
Ich hoffe, es geht dir gut!
Und danke für den Buchtipp!
Das werde ich mir merken, klingt auf jeden Fall interessant für mich:)
Lg, Kathrin