Droemer Verlag | Sachbuch | 2017 | 304 Seiten
Homo hapticus – Warum wir ohne Tastsinn nicht leben können – Martin Grunwald
In den kommenden drei Beiträgen soll sich bei mir büchertechnisch alles rund um unser Tastsinnessystem drehen. Beginnen möchte ich mit „Homo hapticus“ von Martin Grunwald.
Auch wenn es in der Kürze hier der Fülle an Informationen im Buch natürlich nicht gerecht werden kann, will ich doch einen kleinen Exkurs in die Thematik des Tastsinnessystems machen, weil ich es so unglaublich spannend finde.
Alle unsere Sinne erleichtern uns die Interpretation von Umweltereignissen und -eigenschaften, den sozialen Austausch sowie die Anpassung an eine dreidimensionale Welt. Aber das Tastsinnessystem sichert unser Überleben!
Jede Berührung unseres Körpers wird biologisch und psychologisch verwertet, aber oftmals ist unser Tastsinn für uns so selbstverständlich, dass wir ihn kaum würdigen.
Dabei feuern jede Sekunde Millionen von Sensoren in Muskeln, Sehnen, Gelenken, Haaren und Haut ununterbrochen Signalströme an das Gehirn um eine präzise Vorstellung der taktilen, haptischen und propriozeptiven Erfahrungen zu erhalten.
Unsere Haut ist überzogen von Millionen kleiner Haarfollikel, die kleinste Nuancen und Veränderungen wahrnehmen können. An Fingerspitzen und im Mundraum liegt die höchste Dichte an tastsensiblen Rezeptoren vor.
Ob Schmerz, Temperatur- oder Geschwindigkeitsveränderungen – alles wird registriert und bei der Verarbeitung von Tastsinnesreizen sind fast alle Nervenzellen des Gehirns beteiligt! Gleichzeitig begleiten emotionale Prozesse unsere taktile und haptische Wahrnehmung. Eine Meisterleistung und einen tieferen Blick wert!
Noch vor allen anderen Sinnessystemen entwickelt sich unser Tastsinnessystem. Bereits wenige Wochen nach der Befruchtung der Eizelle besteht bei einem Embryo eine passive Berührungssensibilität auf Berührungsreize (zunächst noch in Form von Anpassungsreflexen durch das Rückenmark gesteuert), während die Ausreifungsprozesse des auditiven und visuellen Systems (kein Wunder in den weitgehend reizarmen Bedingungen im Mutterleib) erst viel später beginnen, sich zu entwickeln und sich erst nach der Geburt voll entfalten – unter Einwirkung von entsprechenden Licht- und Tonreizen.
Als Fötus beginnt dann die Ausbildung der propriozeptiven Wahrnehmung: erste Streckbewegungen und aktive Eigenberührungen von Gesicht und Körper, erste Saugbewegungen an Daumen sind zu beobachten als notwendige Voraussetzung für die spätere Nahrungsaufnahme. Letzteres hat also weniger eine psychologische, als eine physiologische Bedeutung: hier findet ein Muskeltraining für die Mundmuskulatur statt 🙂
Das Hören beginnt erst mit der 24. SSW zu reifen, gleichzeitig entwickelt sich das Gleichgewichtsorgan, welches sich ebenso im Ohr befindet: und auch hier wird die Wahrnehmung stets über feine tastsensible Härchen kontrolliert.
Übrigens vermutet man, dass hierin auch die Gründe für die anschließende Drehung in die richtige Geburtslage („Kopf nach unten“) liegen, da im Beckenbereich eine bessere Schallübertragung/Akustik vorliegt.
Unser Tastsinnessystem entwickelt hier die Basis aller Wahrnehmungsprozesse:
- Taktile Wahrnehmung (passiv = berührt werden)
- Haptische Wahrnehmung (aktiv = greifen, etwas berühren)
- Propriozeption (Lage, Spannung und Bewegung von Muskeln, Gelenken, Extremitäten im Raum)
- Interozeption (Wahrnehmung innerer Körperprozesse wie Hunger, Sättigung, Schmerz) sowie ein Körperschema
- Exterozeption (Außenwahrnehmung, z.B. Druck, Vibration, Kälte, etc)
Diese Erfahrungen beginnen bereits im Mutterleib und bilden die Basis für ein Ich-Bewusstsein und lassen ein erstes inneres Konzept von Nähe entstehen.
Unser Tastsinnessystem ist ganz eng verbunden mit unseren Emotionen. Berührungen sind für uns lebensnotwendig. Und so ist es nach der Geburt, wenn es erstmal zu einer Orientierungslosigkeit und Reizüberflutung kommt, da die Berührungsreize nun erheblich verändert sind (z.B. Temperaturschwankungen, Gravitationskräfte, Geräusche, usw.), unbedingt notwendig, das Tastsinnessystem durch Körperkontakt wieder zu stabilisieren.
So werden äußere Umweltreize neurophysisch mit Emotionen verknüpft. Doch auch auf mikrobiologischer Ebene wird durch Berührung das zelluläre Wachstum angeregt. Über mechanische Verformung von Haut und Gewebe werden nämlich elektrische Impulssalven über mechanisch-sensitive Rezeptoren und Nervenfasern weitergeleitet an unser Gehirn, wo Signalmoleküle weitere biochemische Prozesse auslösen und somit unsere gesamte Entwicklung in körperlichen, kognitiven und sozial-emotionalen Wachstumsprozessen beeinflussen!
Ein Säugling und Kleinkind ertastet die Welt und muss sie wortwörtlich begreifen. Es erforscht sie, indem es die Dinge einer haptischen Analyse unterzieht: Gegenstände und Personen werden auf Textur, Gewicht, Form, Materialbeschaffenheit, Gesetze der Schwerkraft sowie auf eigene Wirksamkeitsmöglichkeiten überprüft.
Eine haptisch und taktil stimulierende Umwelt fördert hierbei nicht nur das Erkundungsverhalten und Reifungsprozesse im Gehirn – sie ist auch für die Sprachentwicklung Voraussetzung!
Doch auch als Erwachsener lässt dieser Prozess nicht nach. Wir lieben angenehme haptische Erfahrungen , egal ob es um das „Wischen“ beim Smartphone, das Probesitzen im neuen Wagen oder eine warme Decke geht. Berührungen und Selbstberührungen spielen in unserem Alltag und zwischenmenschlichen Interaktionen eine wichtige Rolle.
Dabei dienen diese nicht nur unserem subjektiven und emotionalen Wohlbefinden, sondern haben auch direkte Auswirkung auf unsere Physiologie (z.B. auf Organe und Immunsystem) und die neurobiologische Aktivität unseres Gehirns.
Zum Buch:
Martin Grunwald, der Begründer des Haptik-Labors am Paul-Flechsig-Institut für Hirnforschung der Universität Leipzig, gibt uns in „Homo hapticus“ wirklich einen sehr umfassenden Einblick in das Wunderwerk unseres Tastsinnessystems. Nach einem tiefen Exkurs in die Entwicklungsbiologie werden die neurophysiologischen Abläufe sowie die Unterschiede in der Tastsinnesleistung von Personen nach Altersstufe und Geschlecht dargestellt. Krankheiten und Störungsprozesse, die in Zusammenhang hiermit stehen, werden angesprochen.
Das Buch widmet sich ebenso der Diskussion, welche Funktion das Phänomen von Selbstberührungen als auch Berührungen im zwischenmenschlichen Kontakt und welchen Einfluss Temperatur, Gewicht und die Beschaffenheit von Objekten auf unsere Urteilsprozesse und Emotionen haben.
Und zuletzt darf nicht vergessen werden, welche Rolle unser Tastsinnessystem auch für Designprozesse von Nutzungsgeräten und Marketing spielt!
Hier wird kompaktes Wissen auf gut verständliche Weise vermittelt! Ich fand die Lektüre sehr bereichernd! Ein klare Empfehlung von mir!
Im Januar hat dieses Buch den Wissenschaftsbuchpreis 2018 in der Kategorie Medizin/Biologie gewonnen. Und das zurecht!