Stress- und Traumaforschung:
Wenn der Körper nein sagt –
Dr. Gabor Maté
Unimedica Verlag | Sachbuch | 2020 | 328 Seiten
Die folgenden Punkte findet ihr in diesem Artikel:
- Zum Autor
- Worum geht es?
- Psychoneuroimmunologie und Endokrinologie
- Das Buch
- Schuld oder Verantwortung?
- Mehr als die Summe unserer Einzelteile
- Stress, Hormone, Risikofaktoren und Krebs
- Verdrängte Emotionen
- Co-Regulation als Schutzfaktor
- Doch welche Rolle spielen nun die Gene? Familiäre Häufungen
- Vision
- Filmtipp und weitere Bücher von Gabor Maté
Zum Autor
Dr. Gabor Maté ist momentan einer der gefragtesten Redner weltweit, wenn es um frühe Psychotraumata und deren Auswirkungen auf unsere spätere Gesundheit geht. Der kanadische Arzt hat viele Jahre lang geforscht, arbeitete im Schwerpunkt mit Menschen, die drogenabhängig bzw. von psychischen Erkrankungen betroffen waren sowie als Palliativmediziner. Er gilt als Experte im Bereich Sucht, Stress, frühes Psychotrauma und kindliche Entwicklung und wurde von Kanada für seine bahnbrechenden medizinischen Erkenntnisse ausgezeichnet. Gabor Maté ist Überlebender des Holocaust und zusätzlich ist auch sein Weg durch Entwicklungstrauma gekennzeichnet.
Sein Anliegen ist es, für Trauma und die damit verbundenen individuellen, systemischen und strukturellen Psychodynamiken und die komplexen physiologischen und biologischen Vorgänge in unserem Organismus und deren Auswirkungen auf unsere Gesundheit und die Gesellschaft zu sensibilisieren.
Worum geht es?
Auf sehr einfühlsame und tiefgreifende Weise beschreibt Gabor Maté die Interdependenzen von Körper und Psyche und zeigt auf, wie komplex unser Organismus auf Erfahrungen reagiert und wie unsere Erfahrungen uns nicht nur psychisch, sondern auch körperlich prägen.
Sind körperliche Erkrankungen Ausdruck unverarbeiteter Beziehungsverletzungen und früher Traumaerfahrungen?
Was trägt zur Entstehung von Krebs, Multiple Sklerose, ALS, Morbus Crohn, Reizdarmsysndrom , Fibromyalgie, rheumatoider Arthritis, Migräne, Endometriose und vielem mehr wirklich bei? Sind das alles zufällige Entgleisungen eines Organismus oder sind es die genetischen Faktoren?
Oder übersehen wir gar entscheidende Komponenten bei einem eindimensionalen, technikbasierten Blick auf Symptome und Krankheiten?
Gibt es andere Risikofaktoren, die ignoriert oder gar dissoziiert werden – einfach weil sie unbequem sind?
Und gibt es so etwas wie eine „Krebspersönlichkeit“?
Wie sieht es aus, wenn Krankheiten sich familiär häufen? Können wir da auch von einem psychosozialen Einfluss sprechen?
Provokative Fragen – die komplexe Antworten erfordern und die die weiterführende Frage aufwerfen, wie wir mit neu gewonnenen Informationen umgehen.
Psychoneuroimmunologie und Endokrinologie – Immunsystem und Hormone
Im Zusammenhang mit der Buchvorstellung zu „Was uns krank macht, was uns heilt“ von Christian Schubert habe ich bereits einiges über Erkenntnisse aus dem Forschungsfeld der Psychoneuroimmunologie und über die Wirkungsweise des Immunsystems geschrieben.
Hier könnt ihr nochmal nachlesen.
Kurz sei nochmal an dieser Stelle zusammengefasst, dass es sich bei der Psychoneuroimmunologie (PNI) um eine noch recht junge Disziplin handelt, die die Zusammenhänge zwischen unseren (frühen) Bindungs- und Beziehungserfahrungen und unserem Immunsystem erforscht, d.h. wie sich Beziehungs- und Stresserleben und frühe Psychotraumata auf den Organismus auswirken.
Auch Gabor Maté bezieht sich in „Wenn der Körper nein sagt“ auf dieses Forschungsfeld, und stellt fest, dass die Rede genau genommen von der Psychoneuroimmunoendokrinologi
Beide Autoren verweisen auf das enge Zusammenwirken von Nervensystem, Immunsystem und Hormonsystem und das diese nicht losgelöst von unseren psychosozialen Erfahrungen betrachtet werden können.
Während Schubert den Schwerpunkt in seinen Erläuterungen mehr auf das Immunsystem legt, beschreibt Maté die Rolle der Hormone und entwicklungspsychologische Prozesse ausführlicher und ergänzt das mit Einblicken in epigenetische Prozesse bei transgenerativer Traumaweitergabe, weshalb sich beide Bücher sehr gut ergänzen.
Das Buch:
Gabor Maté zeigt, dass Stress und (besonders frühe) anhaltende, belastende Beziehungserfahrungen, langfristig unser Nervensystem, unser Immunsystem, unser Hormonsystem und unser genetisches System beeinflussen – und damit unsere Gesundheit.
Er macht auf sehr anschauliche Weise darauf aufmerksam, dass wir unsere emotionale Verletzlichkeit als Gesellschaft und Individuum in vielen Fällen und vor allem wenn es um körperliche Erkrankungen geht, dissoziieren und unterschätzen.
Deutlich wird vor allem eins: emotional zehrende Beziehungen und eine damit verbundene Dynamik der Verdrängung von Emotionen sind mit die entscheidendsten Risikofaktoren für schwere Erkrankungen, von degenerativen neurologischen Krankheitsbildern bis hin zu Krebs und Autoimmunerkrankungen.
„Dabei geht es insbesondere um den verborgenen Stress, den wir alle durch unsere frühe Programmierung erzeugen, ein Muster, das so subtil ist und sich so stark eingeprägt hat, dass wir es als Teil unseres wahren Selbst empfinden.“ S.4
„Wenn der Körper nein sagt“ ist eine Mischung aus Erfahrungsberichten, Patientengesprächen und wissenschaftlichen Erläuterungen.
Es ist eine abwechslungsreiche Lektüre, die anhand von individuellen Krankheitsgeschichten zahlreicher Patienten von Maté aufzeigt, wie sich unsere Erfahrungen in Krankheiten wie Krebs, Multiple Sklerose, ALS, rheumatoider Arthritis, entzündlichen Darmerkrankungen, usw. manifestieren können.
Maté untermauert dies mit wissenschaftlichen Erkenntnissen, Studienergebnissen und Exkursen in medizinisch-biochemische, epigenetische, entwicklungs- und bindungspsychologische Prozesse. Es werden die Zusammenhänge von verletzenden Beziehungserfahrungen, Hormon- und Immunsystem beschrieben, wie sich Selbstregulationsfähigkeiten bereits in der Kindheit ausdifferenzieren, welche Rolle dabei das Familiensystem in der Basis spielt und welche Folgen sich hieraus für das Bindungs- und Stresserleben im späteren Erwachsenenalter ergeben.
Maté macht deutlich, dass es hier nicht um Schuldzuweisungen geht, sondern vielmehr um eine verantwortungsvolle Haltung, durch die der Kreislauf von unbewussten Prägungen, Tabuisierungen, ungünstigen Verhaltensmustern im Umgang mit Emotionen und Konflikten und transgenerativer Traumaweitergabe unterbrochen werden kann.
Es geht um das Erkennen und Auflösen von komplexen Vorgängen, die auf den Organismus schädigend wirken können.
Als erfahrener Palliativmediziner wendet er sich mit seiner Forschung zu einem großen Teil dem Thema „Krebs“ zu, ebenso wird das Thema „Tod“ nicht ausgeblendet, weshalb das Buch nicht immer eine leichte Lektüre ist und möglicherweise triggern kann. Es ist also gut, während des Lesens auf sich zu achten.
Dennoch: es lohnt sich, auch für Laien im medizinischen Bereich, denn das darin enthaltene Wissen ist unverzichtbar für uns als Individuum und als Gesamtgesellschaft.
Und es macht deutlich: unserem Körper wohnt eine Weisheit inne. Er sagt „Nein“ für uns, wenn wir das Gespür für uns selbst verlieren.
Schuld oder Verantwortung?
„Es ist immer heikel anzusprechen, dass die Art und Weise, wie Menschen in ihrer Lebensführung konditioniert wurden, zu ihrer Krankheit beigetragen haben könnte.“ S.9
Erfahrungen verwandeln sich in Biologie – mit solchen Aussagen steht für viele erstmal der sprichwörtliche Elefant im Raum.
Solche Aussagen lösen tiefe Ängste aus, rufen sie doch auch schnell Gefühle und Gedanken von Schuld und persönlichem Versagen hervor.
Nicht selten stoßen solche neu gewonnen Erkenntnisse auf Abwehr, Protest und Empörung.
Das weiß auch Gabor Maté.
Scham und Schuld gehören zu den tiefgehendsten Emotionen überhaupt und der Mensch tendiert dazu, diese innigst zu vermeiden.
Soziologisch und entwicklungsgeschichtlich gesehen sind diese beiden Gefühle die existentiellsten, da in ihrer Folge die Zugehörigkeit zur Gemeinschaft in Gefahr bzw. durch einen Ausschluss aus der Gemeinschaft das Überleben bedroht ist.
Doch wie Maté betont, geht es hier nicht um eine Zuweisung von Schuld, sondern vielmehr um Achtsamkeit, um authentische Lebensführung und verantwortungsvolle Entscheidungen. Um das Lernen.
Es geht um Verantwortungsübernahme.
Denn durch Ignorieren berauben wir uns wichtiger Chancen.
Wenn wir uns trauen würden, uns den zunächst so unangenehmen Erkenntnissen aufrichtig zu stellen, welchen Unterschied würde das für uns als Individuum, innerhalb unseres Familiensystems und im Kollektiv machen?
Wie würde es unsere Gesellschaft verändern? Was, wenn sich hinter solch neu gewonnen Erkenntnissen vielmehr Antworten und Chancen verbergen, neue Möglichkeiten zur Prävention, Intervention und Heilung von Krankheit?
Mehr als die Summe unserer Einzelteile
Unser Organismus ist ein komplexes Ganzes und alle Systeme greifen ineinander.
Unser Nervensystem ist permanent damit beschäftigt, Eindrücke aller Sinnesmodalitäten und Körperempfindungen von innen und außen aufzunehmen und zu verarbeiten.
Auch Emotionen nimmt das Nervensystem in Form von Körperempfindungen wahr.
Starke emotionale Stimuli bzw. Stress lösen eine komplizierte Kaskade physikalischer und biochemischer Reaktionen aus, die zur Steuerung des Zustands unseres Körpers beitragen.
Emotionen sind nichts anderes als elektrische, chemische und hormonelle Entladungen des Nervensystems.
Nervensystem, Immunsystem, Hormonsystem und auch das genetische System reagieren aufeinander.
Alle Systeme müssen ständig fein justieren und aufeinander abstimmen, um den Körper wieder in den Zustand der Homöostase zu bringen oder dort zu halten (Gleichgewicht der physiologischen Körperfunktionen). Bei frühem oder langanhaltendem Stress gelingt das dem Organismus nur noch bedingt.
„Nicht alle Aspekte einer Krankheit können auf Fakten reduziert werden, die durch Doppelblindstudien und strikte wissenschaftliche Techniken verifiziert wurden.“ S.5
Je spezialisierter Ärzte sind, desto eindimensionaler bleibt in der Regel der Blick auf Symptome und Organe gerichtet. Interdependenzen werden ausgeklammert.
Es wird vergessen, dass der Körper, der symptomatisch wird, eingebettet ist in seine Umgebung, in der er lebt, arbeitet, liebt, spielt, liebt und stirbt und nicht losgelöst davon funktioniert.
Es wird sich hauptsächlich auf technikbasierte diagnostische Messverfahren und Laborwerte beschränkt.
Doch der Mensch ist mehr als die Summe seiner Einzelteile.
Stress, Hormone, Risikofaktoren und Krebs
„Viele von uns leben, wenn nicht allein, dann in emotional unzureichenden Beziehungen, in denen unsere tiefsten Bedürfnisse nicht erkannt oder respektiert werden. Isolation und Stress betreffen viele Menschen, die ihr Leben vermutlich für ziemlich zufriedenstellend halten.“ S.7
Emotionale Kompetenz erfordert, die Fähigkeit Emotionen bewusst zu spüren und ihnen konstruktiven Ausdruck zu verleihen, so dass die eigene Identität gewahrt werden kann und zugleich sowohl Bedürfnisse als auch (emotionale) Grenzen spüren und wahren zu können, dabei unterscheiden zu können zwischen alten, unbewussten Mustern und Bedürfnissen und gegenwärtigen angemessenen Emotionen und Bedürfnissen.
Ist dies nicht der Fall, entsteht Stress.
Doch Stress findet nicht in einem Vakuum statt!
Das bedeutet, unser Organismus reagiert sofort physiologisch.
Das Zentrum hierfür ist die sog. Hypothalamus-Hypophysen-
Über diese Achse werden alle ankommenden Reize und Empfindungen geregelt.
Werden von Gehirn und Nervensystem die eingehenden Informationen als bedrohlich eingestuft, veranlasst der Hypothalamus die Hypophyse dazu, Hormone auszuschütten, was dann weitere Hormonausschüttungen der Nebenniere (Cortisol, Adrenalin) zur Folge hat. Außerdem wird der Körper mobilisiert für Kampf- und Fluchtreaktionen im Herz-Kreislaufsystem, das Immunsystem reagiert hierauf, usw. (s. „Was uns krank macht was uns heilt“).
Das Immunsystem speichert Erinnerungen so in den Zellen, dass auf bereits zuvor aufgetretene Bedrohungen sofort ein Lösungsprogramm abgerufen werden kann, das gilt auch für komplexe emotionale Erfahrungen.
Gabor Maté bestätigt, dass die größten Risikofaktoren für Krankheiten tatsächlich chronischer Stress und frühes Psychotrauma sind, wie es auch andere Autoren beschreiben (z.B. Christian Schubert, Gary Schmid, Prof. Franz Ruppert)
Zwar kommen Umweltgifte schon an dritter Stelle der Risikofaktoren, nach den beiden psychosozialen Faktoren (soziale Isolation und psychosoziale Verletzungen/ Verdrängung), jedoch zeigt sich deutlich, dass genetische Einflüsse weniger relevant sind, als angenommen wird, denn bei manchen Menschen findet eine DNA-Reparatur statt, bei anderen nicht.
Die Frage ist also, was z.B. dazu führt, dass manche inaktive bösartige Zellen sich zu Tumoren entwickeln und andere nicht.
Studien konnten zeigen, dass Stress diese DNA-Reparaturmechanismen verändert.
Die Verdrängung von Emotionen, insbesondere Wut, beeinflusst das biochemische Milieu in dem Maße, dass die Immunabwehr und z.B. die Fähigkeit des Organismus zum regulierten Zelltod (Apoptose) herabgesetzt sind.
Im Falle von Krebs wirkt sich eine dauerhaft veränderte Hormonlage stark auf das Wachstum aus, zumal viele Tumoren direkt von Hormonen abhängen (Krebszellen tragen auf ihrer Membran Rezeptoren für Hormone, die Zellwachstum fördern) oder in Organen auftreten, die eng mit hormonellen Wechselwirkungen verbunden sind. So erläutert Maté ausführlich, dass bei der Entstehung von z.B. Krebs sowohl eine gestörte Hormonaktivität als auch eine beeinträchtigte Immunabwehr eine Rolle spielen.
Verdrängte Emotionen
„Krebs, Multiple Sklerose, rheumatoide Arthritis und die anderen hier beschriebenen Erkrankungen sind keine schlagartig eintretenden Neuentwicklungen im Erwachsenenalter, sondern Gipfelpunkte lebenslanger Prozesse.“ S.207
Die Forschung und zahlreiche Studien zeigen, dass der größte Risikofaktor bei der Entstehung von Krebs und anderen (Auto-)Immunerkrankungen die Vermeidung oder Unfähigkeit ist, Emotionen auszudrücken – oder gar zuzulassen, sie zu spüren, insbesondere im Zusammenhang mit Wut und Konflikten.
Doch häufen sich diese Situation über die Jahre, sind die Homöostase und das Immunsystem bedroht.
Die Verdrängung von Emotionen bzw. die Verleugnung von Verletzlichkeit ist deshalb so gefährlich, weil es den physiologischen Stress auf den Organismus weiter erhöht und zudem meist mit weiteren Belastungsfaktoren wie ein Mangel an sozialer Unterstützung oder Isolation/ „Unsichtbarwerden“, einer Verneinung der eigenen Integrität einhergeht, während man sich bemüht, auf das Umfeld gelassen und glücklich zu wirken.
Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob die Person sich dieses (gestressten) Zustands bewusst ist oder nicht!
Es sind also bestimmte Bewältigungsstrategien (keine Charakterzüge!), die das Krankheitsrisiko erhöhen, die sich in Untersuchungen aber als signifikant herausstellten.
Dabei handelt es sich um lebenslange tiefgreifende Muster, die ihren Ursprung in der Interaktion zwischen Kind und Erwachsenem in der frühen Kindheit haben.
Und zugleich steht hinter einer solchen Verdrängung häufig eine (unbewusste) Schutzstrategie, eine Selbsttäuschung.
Verletzende Erfahrungen können auf diese Weise verleugnet oder bagatellisiert werden, so dass es nicht selten zu einer Dissoziation (Spaltung, Gegenteil von Assoziation) in der Erinnerungen des Erwachsenen und der emotionalen Realität des Kindes kommt. („Es war nicht so“, „es macht mir nichts aus“, „es war alles gut“ usw).
Doch häufig wird dann in Erinnerungen der Preis außer Acht gelassen, den das Kind für die Akzeptanz bei den Eltern zahlen musste: sich selbst zu verneinen.
In Studien konnte gezeigt werden, dass sowohl Reaktionsmuster auf Bindungspersonen im Kleinkindalter als auch die Art, wie Erwachsene von ihrer Kindheit später erzählen, Indikatoren darstellen, die das Maß der Sicherheit, dass sie in der Interaktion mit Bindungspersonen erfahren haben, klassifizieren lassen.
Co-Regulation als Schutzfaktor
„Für den erwachsenen Menschen hängt die biologische Stressregulierung daher von einem empfindlichen Gleichgewicht zwischen sozialer Sicherheit und Beziehungssicherheit einerseits und echter Autonomie andererseits ab. Alles, was dieses Gleichgewicht stört, ob sich der Einzelne nun dessen bewusst ist oder nicht, kann Stress entstehen lassen.“ S.204
Die Art und Weise wie Menschen aufwachsen, die emotionalen Rahmenbedingungen, prägen die Beziehung zu ihrem eigenen Körper und ihrer Psyche, ihrem Weltbild und ihrem Umgang mit Emotionen und Konflikten: ob es einen (angstfreien) Raum dafür gibt, Emotionen auszudrücken oder ob sie, um der Sicherheit willen (z.B. um Bindungsabbrüche oder drohende Gewalt zu verhindern), verdrängt werden müssen.
Die Stressreaktionsmechanismen des Gehirns werden durch Erfahrungen, besonders in frühen Jahren, konditioniert und programmiert und als unbewusste (physiologische) Muster im impliziten Gedächtnis abgespeichert.
Dabei sind Eltern auch die biologischen Regulatoren (Co-Regulatoren) der noch unausgereiften physiologischen und emotionalen Systeme, d.h. Nervensystem und Hormonsystem können sich nur über die Reaktionen und Stimuli von außen regulieren bzw. angeregt und wieder beruhigt werden, andernfalls besteht sogar Todes- oder Kollapsgefahr. (Trauma)
Gehirnstrukturen, die für Gedächtnisbildung und für die Modulation von Emotionen verantwortlich sind, entwickeln sich erst in Reaktion auf elterliche Interaktion und Einwirkung.
So werden auch die Schaltkreise der HPA-Achse (und in Folge die des Hormon- und Immunsystems, s.oben) stimuliert und koordiniert.
Künftige Beziehungen werden als Vorlage neuronale Schaltkreise haben, die in unseren Beziehungen zu unseren frühesten Bezugspersonen festgelegt sind. (eine Art Blaupause/ Blueprint)
Es ist also wichtig, dass Erwachsene die Gefühle des Kindes richtig sehen, verstehen und empathisch auf diese Signale reagieren.
Entscheidend ist hier die Qualität der Einstimmung.
Doch letztendlich bleiben Beziehungen das ganze Leben hindurch wichtige biologische Regulatoren und sind in ihrer Auswirkung auf den Organismus nicht zu unterschätzen.
Doch welche Rolle spielen nun die Gene? Krankheiten und familiäre Häufungen
„Das Milieu der einzelnen Zelle ist die unmittelbare Umgebung der Zelle, aus der sie Botenstoffe empfängt, die von Zellen in ihrer näheren Umgebung sowie von Nervenendungen, die aus der Ferne gesteuert werden, und von weit abgelegenen Organen stammen, die chemische Substanzen in den Blutkreislauf ausschütten.“ S.236
Es ist der Kern der Zelle, der die genetische Information trägt.
Es ist jedoch die Zellmembran, um den Kern herum, die Informationen über Erfahrungen in Form von biochemischen und biophysikalischen Signalen erhält und koordiniert.
Auf ihr sitzen Millionen von Rezeptoren, die wie ein Sinnesorgan funktionieren und Informationen aufnehmen, den Austausch von Substanzen und Botschaften mit der Umgebung regeln:
die „Entscheidungsfindung“ findet in der Membran statt und nicht im Kern.
Unsere Erfahrungen sind in diesem zellulären Gedächtnis gespeichert.
Gene sind sozusagen ein biologischer Bauplan, sie existieren aber im Kontext von lebenden Organismen.
D.h. die Aktivität der Zelle wird durch die Anforderungen und durch die Interaktion des Organismus mit der Umgebung definiert: Gene werden an- oder ausgeschaltet. (Epigenetik)
Auch Stammzellen differenzieren sich erst entsprechend ihrer Umgebung in der sie sich befinden (z.B. ob sie zu einer Knochenzelle oder Nervenzelle oder zu einer Leberzelle werden).
Wenn aufgrund von frühen belastenden Erfahrungen immer wieder elektrische, hormonelle oder chemische Botschaften auf das sich noch in der Entwicklung befindende Nervensystem und die jeweiligen Hormon- und Immunsystem-Organe eintreffen, werden diese Wahrnehmungen auf molekularer Ebene festgeschrieben.
So können epigenetische Prozesse in Gang gesetzt werden, die generationsübergreifend weitergetragen werden.
Familiengeschichten und unbewusste Reaktions- und Bewältigungsmuster ziehen sich oftmals durch viele Generationen, so dass sich auch die immer wieder gleichen Krankheiten häufen können.
In diesem Zusammenhang macht Mate nochmal darauf aufmerksam, dass psychotraumatische Erfahrungen einen sehr komplexen Hintergrund und komplexe Auswirkungen haben, da die Weitergabe von unbewussten Haltungen, Glaubensmustern und Reaktionsmustern, von Verletzungen und Schutzstrategien bis hin zu daraus resultierenden epigenetischen Prozessen eine lange Kettenreaktion, über Generationen hinweg, bedeutet.
Maté betont allerdings auch, dass es daher besonders wichtig ist, um die biologischen als auch psychologischen Hintergründe von Trauma und Traumaweitergabe zu wissen, denn ein solcher Kreislauf wiederholt sich so lange, bis es in einer Generation im Bewusstsein angelangt und aufgelöst wird, indem alte Muster und Verletzungen nicht mehr ignoriert oder verleugnet, sondern verändert werden, so dass Zellsysteme sich wieder erholen können.
Vision
Keine Krankheit hat eine einzige Ursache. Ein Risikofaktor allein ist noch keine Gewissheit. Letztendlich ist es eine Frage des Ausmaßes von Faktoren die zusammenkommen oder fehlen.
Doch wir dürfen nicht ignorieren, wie sehr und umfangreich unser Organismus in Resonanz geht mit unserem psychosozialen Erleben. Dabei geht es nicht um Schuldzuweisung, sondern um das Erkennen und Auflösen von ungünstigen Überzeugungen, Umgangsweisen und Traumaweitergabe und um Prävention.
Es geht um weittragende Folgen, denn was könnte es gesamtgesellschaftlich bedeuten, wenn das Wissen um Trauma und Traumadynamiken einen Weg in die breitere Öffentlichkeit finden würde?
Gabor Matés Vision ist es, ein größeres Bewusstsein für Trauma und die komplexen Dynamiken die dahinterstecken zu schaffen. Denn erst wenn wir Trauma in der Tiefe, seiner ganzen Tragweite, der vollen Dimension verstehen und anerkennen, mit all den psychologischen, systemischen, strukturellen, physiologischen und biologischen Auswirkungen, kann sich etwas verändern. Nicht nur in helfenden und heilenden Berufen.
Denn Trauma zeigt sich vor allem in der Art wie wir Beziehung leben – und in unserem Körper.
Trauma ist nicht individuell, Trauma ist kollektiv.
Trauma geht jede*n etwas an.
Jede*r von uns kennt jemanden, der/die/* von Trauma betroffen ist – und vielleicht sogar sind wir selbst Betroffene.
Filmtipp:
Vom 4.–10. Oktober wird der Film „The Wisdom of Trauma“ von und mit Gabor Maté nochmals in Verbindung mit einigen Experten-Gesprächen gezeigt.
Ich kann ihn sehr empfehlen!
Mehr Infos findet ihr unter: www.thewisdomoftrauma.com

Weitere Bücher von Gabor Maté:


Im Reich der hungrigen Geister
(Unimedica 2021, 496 Seiten)
Über die Zusammenhänge von Sucht, Gesellschaft und Trauma
Unruhe im Kopf
(Unimedica, erscheint am 29. Oktober 2021, 328 Seiten)
Ad(h)s und Kindheitserfahrungen