Herder Verlag | Sachbuch | 2021 | 176 Seiten
Gerald Hüther ist wohl Deutschlands bekanntester Neurobiologe und Hirnforscher und Autor zahlreicher Bücher.
Sein Buch „Das Geheimnis der ersten neun Monate“ hat mich vor Längerem schon sehr begeistert, weil es einen ganzheitlichen Blick auf unsere frühe Entwicklung wirft.
Seitdem habe ich Gerald Hüthers Worten in vielen Podcast-Interviews gelauscht: über Menschlichkeit, Miteinander und Gesellschaft, Hirnforschung und Entwicklung, Lernen und Potentialentfaltung und über seine eigene Geschichte (Leben in und Flucht aus der damaligen DDR). Ich mag seine sanfte Art – sie hat für mich etwas Beruhigendes – und ich mag es, wie er Dinge hinterfragt, die Weitsichtigkeit, damit strahlt er Würde und Weisheit aus.
Mit Erscheinen des neuen Buchs „Lieblosigkeit macht krank“ wurde es Zeit für mich, wieder einmal zu einem Buch von Herrn Hüther zu greifen.
Worum geht es?
Wir werden immer älter, leben in einer Wohlstandsgesellschaft, und haben so viele Wahlmöglichkeiten jeden Tag unser Leben zu gestalten, scheinbar beste Voraussetzungen für ein erfülltes Leben.
Und doch – fühlen wir uns, ja, sind wir wirklich glücklich(er)?
Ein Blick in unsere Gesellschaft zeigt, dass psychische Erkrankungen, Burn-Out, Zivilisationskrankheiten und Vereinsamung zunehmen.
Gerald Hüther untersucht diesen Umstand aus neurobiologischer und biopsychosozialer Sicht.
Dabei kommt er zu einem wesentlichen Schluss: unsere Lebensweise ist eng verknüpft mit dem, wie wir uns fühlen, wie es uns als Individuum, als Gesellschaft und in Verbindung mit der Natur geht.
Die Weichen werden früh gestellt
Unsere Erfahrungen prägen unser Gehirn und unser Körpererleben – und das wiederum prägt unser Erleben der Welt, der Beziehung zu uns selbst, zu unseren Mitmenschen und zur Natur.
Die Weichen werden schon sehr früh gestellt, in den ersten Lebensjahren, wenn die Hirnentwicklung in großem Maße voranschreitet und sich wichtige Nervenverbindungen und Netzwerke einspuren.
Je nachdem, in welchem Maße, die beiden psychologischen Grundbedürfnisse, das nach Bindung und Zugehörigkeit, nach Gesehen-werden und Empathie, und das nach Autonomie und Selbstwirksamkeitserleben, Gestaltungslust und Entfaltung erfüllt oder frustriert werden, entwickeln sich neuronale Netzwerke in die eine oder andere Richtung.
Wird eines dieser Bedürfnisse stark oder lange frustriert, hat das dieselbe Wirkung auf uns, wie körperliche Schmerzen, wir empfinden diesen Schmerz genauso körperlich und bedrohlich, und das führt zu Anpassungsleistungen im Gehirn, welches daraufhin zunehmend Nervenverbindungen für entsprechende Bedürfnisse hemmt und diese unterdrückt.
Die Folge: Wir werden empfindungsloser für unsere inneren Bedürfnisse und die Signale unseres Körpers.
Anpassung und Kohärenzerleben
Als Neurobiologe und Hirnforscher stellt Hüther eines immer wieder heraus: Für ein glückliches und erfülltes Leben ist das Kohärenzerleben, d.h. ob wir unser Leben als stimmig erleben, der entscheidendste Faktor.
Dieses wird gestärkt, wenn es von einem Gefühl der Verstehbarkeit, der Sinnhaftigkeit und der Selbstwirksamkeit begleitet wird.
Kohärenzerleben beginnt bereits im Kleinsten, auf Zellebene. Reaktionsmuster auf Erlebtes im Gehirn führen zu Reaktionsmustern im ganzen Körper und diese zu Funktionsveränderungen.
Es ist alles miteinander vernetzt: das Gehirn, das kardiovaskuläre System, das endokrine System, das autonome Nervensystem, das Immunsystem, bis auf Zellebene.
Die einzelnen Funktionskreise passen sich gegenseitig an, stimmen sich aufeinander ab und somit verändert sich der ganze Organismus.
Doch Anpassung im Innern des Organismus (als Reaktion auf Erlebtes) führt zunächst zu mehr Inkohärenz, die der Körper durch weitere Anpassungen versucht wieder auszugleichen, um erneut mehr Kohärenz herzustellen.
Anpassung führt nicht unbedingt zu einer größeren Robustheit. Spezifität und Anpassung gehen meist mit einem Verlust an Widerstandskraft und Einbußen an anderer Stelle einher. Schon in der Natur sehen wir, je spezifischer Pflanzen einem Umstand entsprechen sollen, desto anfälliger für Krankheiten werden sie dann, wenn andere Bedingungen herrschen.
Die Folge: wir fühlen uns psychisch oder physisch belastet, werden auf lange Sicht krank.
Analogie: Vom Individuum zur Gesellschaft und zur Natur
Gerald Hüther macht deutlich, dass unsere medizinisch-technische Sichtweise auf Krankheit und Gesundheit längst überholt werden müsste, unsere rein kognitive Herangehensweise eines vergisst: dass wir als Menschen höchst soziale Wesen sind, deren Wesenskern darin besteht, sich nach Gemeinschaft, emotionaler Verbundenheit, Lebendigkeit, Gestaltung und Entfaltung zu sehnen.
Diese Sichtweise auf den menschlichen Körper, gleich einer Maschine, der kaum Beachtung geschenkt wird, solange sie funktioniert, und andernfalls lediglich die Einzelteile separiert betrachtet werden, um sie wieder zu reparieren, impliziert eben auch, dass wir dann eben auch nur mehr „funktionieren“ oder „nicht funktionieren“ können, wie eben eine l(i)eblose Maschine.
Hüther geht noch weiter, und überträgt diese Sichtweise auf unser Miteinander als Gesellschaft und auf unseren Umgang mit der Natur.
Zugunsten falscher Wertvorstellungen, wie Leistung, Berechenbarkeit, Erfolg, Anerkennung, Reichtum und Besitz, wobei ein Mithaltenkönnen ein „Funktionierenmüssen“ bedeutet, wobei Konkurrenz, Wettbewerb und blindes Konsumverhalten vorherrscht, bleiben einzelne oder größere Teile der Gesellschaft, sowie die Natur, auf der Strecke.
Und wir verlieren unsere Lebendigkeit, unsere Verbundenheit zueinander.
Denn auch in einem großen Organismus wie einer Gesellschaft oder dem Naturkreislauf führen Veränderungen zu Anpassungsprozessen, Umwälzungen und Umformungen.
Je rücksichtsloser wir miteinander umgehen, mit Tieren, der Natur, mit uns selbst, desto mehr Inkohärenzen entstehen, desto mehr erkrankt das ganze System.
„Konkurrenz ist ja das Gegenteil von Verbundenheit. Sie zerstört zwangsläufig das Band, das Menschen miteinander verbindet, und macht sie zu Einzelkämpfern, die ihre Interessen auf Kosten anderer durchsetzen.“
(S. 78)
„Unser Gehirn existiert ja nicht für sich allein. Es ist mit dem Körper auf untrennbare Weise verbunden und als soziale Wesen sind wir untrennbar mit anderen Menschen verbunden. Deshalb ist es nicht einfach nur unser Gehirn, sondern es ist gleichzeitig auch unser ganzer Körper wie auch die jeweilige Gemeinschaft, in die wir eingebettet sind, die sich so organisieren müssen, dass alles möglichst gut zusammenpasst.“
(S.34)
Das Gute daran ist: wenn wir wissen, was unsere Selbstheilungskräfte schwächt, können wir auch etwas in die andere Richtung bewegen. In einem Organismus ist alles miteinander vernetzt, jede Veränderung (zum Positiven hin) bewirkt weitere (positive) Umformungen – im Kleinen (in uns selbst) wie im Großen (in Gemeinschaft und in der Gesellschaft sowie in der Natur).
Wie wäre es also, wenn wir „…ab jetzt anfangen, etwas liebevoller mit uns selbst umzugehen. Wer das macht, beginnt sich von ganz allein zu verwandeln.“
(S.113)
Liebevoll – jetzt!
In einer Gesellschaft, in der wir uns so viel im lieblosen Leistungs- und Funktionsmodus bewegen, kommt uns – unweigerlich – das Vertrauen in die eigenen Selbstheilungskräfte abhanden, weil wir früh lernen, die Signale unseres Körpers und innere Empfindungen zu überhören und zu unterdrücken. Wir merken erst dann, dass etwas nicht stimmt, wenn wir bereits vereinsamt, ausgebrannt oder krank sind.
Es ist unsere Lebensweise, mit der wir uns von uns selbst und voneinander entfremden, die uns krank macht, bis dahin, dass am Ende auch unser Miteinander in Gemeinschaft gestört ist und wir sogar unseren Lebensraum zerstören.
Es würde uns guttun – als Individuum und als Gesellschaft, wenn wir wegkämen von diesem eindimensionalen Blick auf einzelne Symptome und deren Bekämpfung und den Menschen stattdessen als ganzes Wesen im Kontext seines Lebensumfelds wahrnehmen würden. Wenn wir den Fokus mehr verschieben würden, in Richtung dessen, was uns guttut, was es grundsätzlich braucht, um gesund zu bleiben: in unserer Ernährung, unserer Lebensweise, in der Entwicklung von Kindern und deren Begleitung und in unseren Beziehungen.
Wenn wir beginnen, weniger leistungs- und erfolgsorientiert zu denken, wenn wir wegkommen von einem funktionsorientierten Umgang mit unserem Körper, mit uns als Gesellschaft, mit Tieren und der Natur, dann können wir etwas bewegen.
Wie Hüther auch immer wieder betont, dürfen wir hier auch unsere Erwartungshaltung den Allerkleinsten gegenüber, nämlich bereits in Kindergarten und Schule, überdenken, wo schon so früh Anpassung erwünscht und auf Erfolg fokussiert wird.
Wenn wir uns weniger konkurrierend, konsumierend verhalten und statt immer noch mehr erleben zu müssen, mehr ins Sein und die Verbundenheit kommen und dieses So-Sein weniger rein kognitiv betrachten stattdessen wieder mehr ins Spüren kommen, achtsamer und liebevoller werden, dann werden wir auch wieder empfänglicher und empfindsamer für eigene innere Bedürfnisse und die Signale unseres Körpers genauso wir für unsere Mitmenschen.
Wir dürfen „uns wieder mit unserer eigenen Lebendigkeit verbinden, mit unserer Entdeckerfreude und Gestaltungslust, mit unserer Sinnlichkeit und unserem Körperempfinden, auch mit unserem Bedürfnis nach Zugehörigkeit und Geborgenheit im Zusammenleben mit anderen“ S.170
Und dann kommt etwas ins Fließen. Dann kommen wir wieder miteinander in echte Verbindung!
Mehr dazu auf: www.liebevoll.jetzt
Interviewtipp (zum Lauschen)
Ein überaus interessantes Podcast-Interview mit Dr. Gunther Schmidt, Arzt für psychosomatische Medizin und Mitbegründer der Milton-Erickson-Gesellschaft (MeG) für klinische Hypnose Deutschland und Pionier für Hypnotherapie und systemische Therapie, darüber wie hypnosystemische (Therapie-)Konzepte oder Betrachtungsweisen Gesundheit, Autonomie und Selbstwirksamkeitserleben fördern können und welche Rolle Politik und Gesellschaft dabei spielen.
Lauschen könnt ihr hier:
> Link zum Interview
oder auf diversen Podcast-Plattformen im „Hypnose-Podcast der MEG“, Folge 15!
Podcasttipp
Martha Pany beschäftigt sich in ihrem Podcast „Hoffnung hilft heilen“
in zahlreichen Interviews mit Betroffenen und Fachleuten mit dem noch recht jungen Konzept von „Recovery“ und seelischer Gesundheit in Verbindung mit Traumaverständnis, wobei es darum geht, wie wir zukünftig Wege finden können, bei Krankheiten und Krisen sowohl bei ihrer Entstehung als auch ihrer Genesung den gesamten Lebenskontext einer Person zu betrachten und gleichzeitig weniger symptom- und funktionsorientiert, weniger diagnosen- und systemabhängig vorzugehen, sondern individuelle Ressourcen aufzubauen und zu nutzen, um Selbstheilungskräfte, Selbstwirksamkeitskompetenzen, Verbundenheit und Wohlbefinden zu stärken.
Mehr zu Recovery auf: hoffnunghilftheilen.de
Buchtipp
Respekt, Vertrauen & Liebe
Jesper Juul gilt als Pionier auf dem Gebiet der gleichwürdigen Beziehungsgestaltung, vor allem zwischen Erwachsenen und Kindern.
In zahlreichen Büchern und Vorträgen erläuterte er auf sehr einfühlsame Art, welchen Unterschied es macht für die Beziehung zum Kind oder Jugendlichen (und für den späteren Erwachsenen) mit welcher Haltung und welchen Werten wir an sie herantreten UND wie wir mit uns selbst in Beziehung sind.
Alle seine Bücher sind eine einzige Offenbarung!