Warum brauchen wir das Wissen über Trauma?
„Das Wissen über Trauma hat die Kraft die Welt zu verändern.“
(Verena König)
In den letzten Jahren gab es insbesondere auf den Forschungsfeldern der Psychotraumatologie und der Neurowissenschaften, zusammen mit den Forschungsergebnissen der Bindungs- und Entwicklungspsychologie und der Systemik, immer mehr Erkenntnisse darüber, wie Erfahrungen unseren Organismus beeinflussen – sowohl im Körper als auch psychodynamisch.
Darüber, wie sich frühere Bindungserfahrungen auf unser gegenwärtiges Erleben und Verhalten auswirken.
Bahnbrechend hierbei sind außerdem die Erkenntnisse der Neurobiologie, die es ermöglichen, die Funktionsweise unseres Nervensystems zu verstehen, insbesondere auch seine Funktionsweise in Wechselwirkung mit unseren Beziehungen und bei traumatischen Erfahrungen.
Dieses Wissen über Trauma, das Nervensystem, als auch über die Bedeutung von Beziehung für die Emotionsregulation ist allerdings noch kaum in der Praxis angekommen.
Es ist nicht Teil von einem Psychologiestudium, Pädagogikstudium, Medizinstudium, Lehramtsstudium und auch nicht von einer ErzieherInnenausbildung und so fehlt es in Schulen, Kindergärten, Therapien, medizinischen Behandlungen, Berufs- und Teamcoachings, usw. an einem nervensystemfreundlichen Umgang.
Dabei ist dieses Wissen essentiell.
Denn es könnte die Art unserer Begegnungen grundlegend verändern!
Wir Menschen sind Beziehungswesen
Wir Menschen sind Beziehungswesen.
Beziehung ist für uns so essentiell, dass unser Nervensystem unsere Beziehungserfahrungen widerspiegelt.
Unser Nervensystem reagiert auf jegliche Form von Kontakterfahrung.
In beinah jedem Berufsfeld treten wir in Beziehung zu anderen Menschen.
In unserer Freizeit, im Familienleben sind wir in Beziehung mit anderen Menschen.
Wir sind soziale Wesen und darauf ausgelegt, in Kontakt zu treten, in Beziehung zu sein.
Wir brauchen das Wissen über das Nervensystem, damit wir erkennen, in welchem Zustand sich unser Gegenüber, dessen Nervensystem, gerade befindet, so dass wir angemessen darauf reagieren können – und im besten Fall co-regulieren und unterstützen können.
Wir brauchen das Wissen über das Nervensystem, damit wir erkennen können, in welchem Zustand sich unser eigenes Nervensystem gerade befindet, so dass wir im jeweiligen Moment entsprechend für uns sorgen können.
Wir brauchen dieses Wissen, um unsere Beziehungen in Verbundenheit zu gestalten, um liebevoller miteinander umzugehen, um unsere Teamfähigkeit, unsere Selbstregulationsfähigkeiten zu stärken, um Konflikte besser bewältigen zu können, um ggfs. eine Hand zu reichen.
Wir brauchen das Wissen über das Nervensystem für die Prävention von Trauma.
Um Menschen mit Trauma besser aufzufangen und Traumafolgen vorzubeugen!
Wir brauchen das Wissen über Trauma und das Nervensystem, damit wir Trauma überhaupt erkennen können, damit wir traumatisierten Menschen angemessen begegnen und damit umgehen können und um Retraumatisierung zu vermeiden!
Traumasensible Therapien
Viele der heute klassischen Therapieformen sind nicht traumasensibel ausgerichtet.
Der Fokus liegt vordergründig auf dem „Wegmachen“, der Reparatur der Defizite und Symptome, weniger auf dem Menschen, wenig auf dem, was da ist, um die Selbstwirksamkeit zu fördern, um eine ganzheitliche Integration aller Anteile einer Person zu fördern.
Das Herstellen von Sicherheit und Präsenz, wohlwollende, transparente Begegnungen in Resonanz und auf Augenhöhe, ein nervensystem- und ein ressourcenorientierter Blick fehlen häufig.
Das Wissen über Trauma ist noch kaum vorhanden.
Wir brauchen das Wissen über Trauma und das Nervensystem, damit endlich ein Zugang zu adäquaten Therapien ermöglicht wird, die ermächtigen, ohne zu retraumatisieren!
Einen Zugang zu Therapieformen, die die neueste Forschung, die Bedeutung der Beziehungsebene und deren Auswirkungen auf das Nervensystem mit einbeziehen.
Und zwar für alle (nicht nur für Selbstzahlende)!
Wir dürfen den Unterschied begreifen zwischen
- herkömmlichen Therapien, die symptom- und defizitorientiert sind, während sie auf der Beziehungsebene häufig mit Erwartungsdruck, Frustration, Hilflosigkeit, Gefühlen von mangelndem Sicherheitsempfinden, eingeschränkter Empathie und eingeschränkter Akzeptanz einhergehen und damit deren Einfluss auf Nervensystem und Symptome vernachlässigt
- einer traumasensibel gestalteten Therapie, die gleichzeitig beziehungs-, ressourcen- und körperorientiert die Kapazitäten für verschiedene (Er-)Lebensqualitäten erweitert, während sie auf der Nervensystemebene die Bedeutung von Sicherheitsempfinden im Kontakt und die Sprache des Körpers im Blick hat und würdigt.
Gleichzeitig bleibt die Begegnung stets auf Augenhöhe und transparent, während sie begleitet wird von Empathie, Verbundenheit und Resonanz.
Eine solche Therapie wirkt entlastend und ermächtigend zugleich.
Nervensystem und Gesellschaft
Doch was für die Psychotherapie gilt, betrifft auch unser Miteinander in der Familie, in der Schule, im Kindergarten, im Gesundheitswesen und in der Medizin, in der Geburtshilfe, in der Pflege, im gesellschaftlichen Miteinander, im Rechtswesen und in der Politik:
Daher brauchen wir eine grundlegende Reform in unserem Gesundheitssystem und in unserer Gesellschaft!
Eine Reform, die Denkmuster und Strukturen aufbricht, die Trauma und Traumasymptome hervorbringen und in denen Trauma als individuelles Problem angesehen wird!
Eine Reform, die Strukturen aufbricht, in denen sich Konflikte verhärten können, statt weich werden.
Eine Reform, bei der der Fokus im Miteinander wieder auf Verbundenheit, Wohlwollen, Akzeptanz, Verletzlichkeit UND Ressourcen liegt, statt auf Konkurrenz, Ausgrenzung, Abgrenzung, Isolation und Defiziten.
Wir brauchen das Wissen über Trauma und wie das menschliche Nervensystem funktioniert und reagiert für unser tägliches Miteinander.
Und wir brauchen eine umfassende gesamtgesellschaftliche Reform zur Prävention von Trauma, Zerrüttung, Zerbruch, kleinen und großen Kriegsschauplätzen.
Damit in Familien, Kindergarten, Schule, Geburtshilfe, Berufswelt, aber auch im noch größeren, weitergefassten Kontext von Institutionen und Organisationen und Politik Trauma verhindert werden kann, damit vielfältige Formen von Gewalt, Ausgrenzung und Diskriminierung auf struktureller und systemischer Ebene keinen Platz mehr haben.
Zusammenfassung:
Verbundenheit ist essentiell
Wir Menschen sind Beziehungswesen. Beziehung ist für uns so essentiell, dass unser Nervensystem unsere Beziehungserfahrungen widerspiegelt.
Überall dort, wo Menschen mit Menschen zu tun haben, brauchen wir das Wissen über das Nervensystem und wie es auf Beziehungserfahrungen reagiert!
Wir brauchen dieses Wissen, um unsere Beziehungen in Verbundenheit zu gestalten.
Wenn wir erkennen können, in welchem Zustand sich unser eigenes Nervensystem oder das unseres Gegenübers befindet, können wir darauf entsprechend eingehen.
Wir brauchen das Wissen, um uns rechtzeitig selbst regulieren zu können.
Wir brauchen es, um einander zu co-regulieren, um eine Hand zu reichen.
Wir brauchen das Wissen für die Prävention von Trauma: in Familie, Kindergarten, Schule, sozialen und medizinischen Einrichtungen, in Gesellschaft und Politik!
Und wir brauchen das Wissen, damit endlich ein Zugang zu angemessenen, traumasensiblen Therapien ermöglicht wird.
Sicherheit in unserem Empfinden, in unserem Nervensystem, stellt sich ein als Körperreaktion auf sicheres, präsentes und verbundenes Beziehungserleben.
Daher brauchen wir den Blick auf den Körper und dessen Reaktionen im Kontakt mit anderen.
Daher brauchen wir eine traumainformierte Gesellschaft.
Daher brauchen wir eine nervensysteminformierte Gesellschaft.
Traumaerfahrungen entstehen zumeist durch Bindungs- und Beziehungserfahrungen, doch genauso steckt in (korrigierenden) Bindungserfahrungen, die traumasensibel gestaltet werden, die große Chance, Heilsames zu bewirken, einen sicheren Raum, für das was sich zeigt, zu kreieren oder sogar Traumafolgen zu verhindern.
Daher gehe ich mit Verena Königs Vision, dass das Wissen über Trauma und damit über das Menschsein, über unser ureigenes So-Sein, die Kraft hat, die Welt – unsere Welt, die Welt unserer Beziehungen – grundlegend zu verändern!
In diesem Beitrag habe ich bereits einige Quellen zusammengestellt, die dabei helfen können, das Nervensystem zu verstehen:
Trauma verstehen: Tipps, Podcasts, Kongresse