Dr. Edith Eva Eger
In der Hölle tanzen
(Erfahrungsbericht, Taschenbuchausgabe, btb, 2019, 480 Seiten
als gebundene Ausgabe erschienen unter dem Titel „Ich bin hier, und alles ist jetzt“, btb, 2018)
Dieses Buch ist das Zeugnis einer Überlebenden des Holocaust, die Geschichte einer Heilung und der Erfahrungsbericht einer Trauma-Therapeutin zugleich!
„Vielleicht geht es beim Heilen nicht darum, die Narbe verschwinden zu lassen oder sie gar herbeizuführen. Heilen heißt, die Wunde pflegen.“
(S.387)
„Wenn wir trauern, geht es nicht nur um das, was geschehen ist – wir trauern um das, was nicht geschehen ist.“
(S.333)
Wow, dieses Buch – ich weiss gar nicht, wo ich anfangen soll.
So ein Erfahrungsschatz.
So viele Essenzen an Weisheit, Würde, Wertschätzung und Selbstreflektion.
So viel Demut vor dem Leben und so viel Durchhaltevermögen.
So offen und klug, so ehrlich und authentisch.
Dieses Buch bewegte mich bereits von den ersten Seiten an.
Weil ich spürte, hier schreibt eine Frau, die viel zu sagen hat.
Ich habe mir so viele Stellen markiert!
Hier schreibt eine Frau, die über viele Jahre lang an so vielen Stellen suchte und kämpfte, um ihrem Inneren zu entfliehen, die durch viele Tränentäler ging, durchs Abgeschnitten-Sein von den eigenen Gefühlen und Träumen, dem eigenen Selbst, die verzweifelt an vielen Fronten kämpfte und letztendlich einen Weg fand, das Licht wieder zu sehen.
Worum geht es? –
Überleben und Trauma
Mit 16 Jahren wurde Edith Eva Eger 1944 aus Ungarn nach Auschwitz deportiert.
Ihre Mutter wurde sofort ermordet, während sie und ihre Schwester die grausame Zeit dort überlebten. Edith, deren großer Traum es zuvor war, Balletttänzerin und Kunstturnerin zu werden und der zerplatzte, als ihr Leben jäh unterbrochen wurde, tanzte vor Dr. Mengele um ihr Leben.
Dieses Buch ist einerseits ein Zeugnis einer Überlebenden des Holocaust bzw. der Shoah, wobei sie ihre Erlebnisse vor, während und nach dem Krieg schildert und dabei viel von ihrem Innenleben preisgibt.
Doch es ist auch die Geschichte einer Heilung, eine Geschichte von ganz viel Mut und Demut.
Und es ist ein Erfahrungsbericht einer (Trauma-)Therapeutin, die Stück für Stück über viele, viele Jahre hinweg, an ihrer eigenen Geschichte wachsen und ihr eigenes Trauma immer mehr aufarbeiten und überwinden konnte, während sie andere dabei begleitete auf ebendiesem Weg.
So lässt Edith Eger nicht nur am tiefen Leid teilhaben, sondern auch an transformierenden und heilenden Wachstumsprozessen – ihren eigenen, sowie von Menschen, denen sie im Laufe ihrer Arbeit begegnete.
„Und das ist mein Trauma, hatte ich gelernt: ein fast ständiges Gefühl im Bauch, dass etwas nicht stimmt oder dass gleich etwas Schreckliches passiert, automatische Angstreaktionen in meinem Körper, die mich auffordern, wegzurennen, Schutz zu suchen oder mich vor der allgegenwärtigen Gefahr zu verstecken. Mein Trauma kann bei alltäglichen Ereignissen immer noch aufleben.“
(S. 25)
„Immer wieder stoße ich auf Ratschläge wie diesen: Wenn dich etwas stört oder ängstigt, dann sieh nicht hin. Beschäftige dich nicht damit. Geh ihm aus dem Weg. Und so verweigern wir uns vergangenen Verletzungen und Entbehrungen oder aktuellen Unannehmlichkeiten und Konflikten.“
(S. 26)
„Und dadurch, dass ich beschlossen hatte, mich nicht der Vergangenheit und mit mir selbst auseinanderzusetzen, hatte ich auch Jahrzehnte nach meiner eigentlichen Befreiung beschlossen, immer noch nicht frei zu sein. Ich hatte mein Geheimnis, und mein Geheimnis hatte mich.“
(S. 26)
Edith Eger und Viktor Frankl
Bereits im Vorwort wird erwähnt, dass Egers Buch stellenweise an das Werk von Viktor Frankl („…trotzdem Ja zum Leben sagen“) erinnert:
„Viktor Frankl stellt die Psychologie von Gefangenen vor, die mit ihm in Auschwitz waren. Dr. Eger bringt uns die Psychologie der Freiheit nahe.“
(S.12)
Viktor Frankl, der als Psychologe und Arzt ebenso Auschwitz überlebte, veröffentlichte in seinen Schriften später seine Erlebnisse und psychologischen Beobachtungen: Wie hat sich das Leben im Konzentrationslager in der Psyche eines „Häftlings“ widergespiegelt?
Er entwickelte die sog. Logotherapie (Therapie durch Sinnhaftigkeit, Motivation mittels existentiellen Sinnempfindens und Sinnstrebens), und seine Forschungen widmete er sein Leben lang dem Umstand, was Menschen geholfen hat und helfen kann, traumatische Erlebnisse zu überleben und zu überwinden.
Viktor Frankl prägte den Satz: „Traumareaktionen sind normale Reaktionen auf unnormale Ereignisse“.
Auch Edith Eger sagt: „Deshalb bin ich inzwischen auch dagegen, posttraumatischen Stress zu pathologisieren und ihn als Störung zu bezeichnen. Es ist keine gestörte Reaktion auf ein Trauma – es ist eine übliche und natürliche Reaktion.“ (S. 236)
Edith Eva Eger, träumte von einem Leben als Kunstturnerin.
Doch ihr Leben nahm eine Wende, als alles in Trümmern lag, sie ihre Eltern verlor und von einem Tag auf den anderen nichts mehr war, wie zuvor.
Und so jagte Edith an allen möglichen Fronten Geister und fand doch keinen Frieden, verbarg den Geist der Vergangenheit unter dem Deckmantel des Schweigens und der doch immer nur lauter wurde, während sie sich vergeblich danach sehnte, den Faden des alten Lebens wieder aufzunehmen, um die Träume von vor dem Krieg zu verwirklichen.
Sie jagte Zertifikaten hinterher, um sich ihres Wertes zu versichern, um dem Gefühl des Unwürdigseins zu entgehen, immer in der Hoffnung, die Lücke von all dem, was verloren ging, zu schließen.
„Habe ich auch etwas in mir, was meine Identität bestätigen kann, was mich wieder zu mir selbst machen kann?“
(S. 162)
Erst als ihr viele Jahre später das Buch Viktor Frankls und ein Brief von ihm in die Hände fällt, öffnet sich eine Tür.
Frankl half ihr, Worte zu finden für das Erlebte und wurde ihr bis zu seinem Tod ein wichtiger Mentor und Vertrauter.
Ein Weg, viele Stationen – Ich bin hier und alles ist jetzt
Ediths Weg der Heilung ist ein lebenslanger Weg.
Ja, auch heute noch, viele Jahre später, gibt es vereinzelte Momente, an denen kommen die Erinnerungen in einem Flashback zurück.
Doch gleichzeitig ist sie heute in der Lage, ihr Leben in Freiheit und Selbstermächtigung zu führen, nicht mehr als Gefangene des einstigen Traumas.
Heute ist sie 95 Jahre alt, blickt glücklich auf eine langjährige Ehe tiefer Verbindung zurück, und kann bereits ihren Urenkeln beim Wachsen zuschauen.
Sie arbeitet seit vielen Jahren als (Trauma-)Therapeutin und ist noch immer eine gefragte Rednerin, wenn es um posttraumatische Belastungen geht.
Ihr Herzensanliegen ist es, Menschen zu helfen, wieder mit sich selbst in Verbindung zu kommen und die Wachstumsmöglichkeiten zu sehen, um frei zu werden.
Nicht von den Erinnerungen oder den Gefühlen, sondern von einschränkenden Empfindungen, um frei zu werden für ein Leben in Selbstakzeptanz, für ein Leben, das selbstbestimmt ist, um die Person zu werden, als die man auf der Welt vorgesehen war.
Um frei zu sein, im Hier und Jetzt zu leben.
Mut und Demut
Beeindruckend ist vor allem die enorme Größe, die in Edith Egers Haltung steckt: sie nimmt großen Abstand davon, Leid welcher Form auch immer, zu bagatellisieren, zu verharmlosen oder zu vergleichen.
Ihr Interesse gilt dem Menschen, der er in seinem tiefsten Wesenskern ist und/oder sein könnte.
Die Haltung …
… den Menschen in seiner Gesamtheit anzusehen, mit all seinen Erfahrungshintergründen, die ihn zu dem werden ließen, der er ist, statt nur auf Symptome zu achten,
… nicht von Einzelheiten auf das Ganze zu schließen, Menschen nicht in Schubladen und Kategorien zu stecken, sondern individuell und differenziert zu betrachten,
… statt zu bewerten und zu beurteilen, die Chancen zu erkennen und sich dem bedürftigen Wesenskern zuzuwenden,
… sich dem Leben und den Menschen gegenüber stets demütig, würdigend und wohlwollend zu verhalten, selbstreflektierend, ohne dabei die eigene Würde und Selbstachtung zu verlieren,
zeugt von Ediths großer mentaler und spiritueller Stärke, ist überaus bewundernswert und in der Form selten.
Fazit
Dieses Buch ist ein einziger Schatz an Essenzen und wertvollen Gedanken, voller Weisheit, Mut, Würde, Wohlwollen, Wertschätzung, Demut und Respekt dem Leben und dem Menschsein gegenüber.
Es überwindet Grenzen und Schranken.
Edith Eva Eger macht besonders eines deutlich:
So unterschiedlich unsere Geschichte und Hintergründe, von denen wir kommen auch sein mögen, so unterschiedlich unsere vordergründigen Symptome, Kämpfe, Belastungen und Herausforderungen auch sein mögen, so wurzeln unsere tiefsten Sehnsüchte und Bedürfnisse, als auch der Kern unseres Schmerzes doch stets in ein und demselben Wunsch:
Dem universellen und existentiellen Wunsch in unserem tiefsten Wesenskern erkannt zu werden und danach leben zu dürfen, im Wunsch verbunden zu sein und geliebt zu werden, so wie wir sind, mit unserem ganzen So-Sein.
Hier findest du meine Vorstellung des Buchs von Viktor Frankl.