Von der Kunst zu spüren.
Über Körpergefühl, Ressourcen und Resilienz.
„Spüren ist die Kunst, kleine Unterschiede wahrzunehmen.“
(Seite 117)
Inhalt
- Was ist Resilienz?
- Unser autonomes Nervensystem – Überlebensmechanismen und Lebensgefühl
- Unser Körpergefühl beeinflusst unser Lebensgefühl – und umgekehrt.
- Wie geht Spüren? Freundliche Aufmerksamkeit, Stresslevel und parasympathischer Shift.
- Was sind Ressourcen?
- Trauma – Verlust von Ressourcen, Überlebensstrategien als Ressource.
- Beispiele für Ressourcen
- Buch: Isa Grüber – „Resilienz – Dein Körper zeigt dir den Weg“
Was ist Resilienz?
Resilienz ist die Fähigkeit schwierige Umstände (Traumata, aber auch die großen und kleinen Herausforderungen im Alltag) nicht nur zu überstehen, sondern sie kraftvoll und flexibel zu bewältigen und/ oder zu verändern und gleichzeitig daran zu wachsen.
Diese Fähigkeit hilft uns,
positive Energien zu aktivieren,
uns selbst zu beruhigen,
Emotionen zu regulieren,
Gedanken zu steuern,
Grenzen und Bedürfnisse wahrzunehmen,
handlungsfähig zu bleiben,
usw.
Resilienz ist eine Fähigkeit, die im besten Fall bereits in der Kindheit gefördert und in großen Anteilen erworben wird. Doch das Schöne ist, es ist nie zu spät, diese Fähigkeit nachreifen zu lassen, denn Resilienz ist kein zeitlich begrenztes Projekt. Resilienz ist ein Weg, den wir auch als Erwachsene immer weiter und weiter ausbauen können.
Isa Grüber (s.u.) erweitert die Definition von Resilienz als „psychische Widerstandkraft, die im Körper spürbar ist.“
Unser autonomes Nervensystem – Überlebensmechanismen und Lebensgefühl.
Unser Körper ist schon ein Wunderwerk.
Der Umgang mit Stress ist in ihm als Überlebenssystem angelegt.
Dieses liegt in unserem autonomen Nervensystem.
Sobald unser Stresslevel steigt, reagiert unser Körper mit einer Aktivierung des autonomen Nervensystems: der Herzschlag wird schneller, die Muskeln werden stärker durchblutet, die Atemfrequenz steigt, Zuckermoleküle werden bereitgestellt, die Verdauung wird vorübergehend eingestellt, usw.
Biologisch gesehen bereitet sich der Körper auf Kampf oder Flucht („Fight or Flight“) vor, indem er die Energiezufuhr für die entsprechenden Organe erhöht und somit Leben (im Ernstfall) rettet.
Schon kleinere Stress-Situationen führen zu einer Aktivierung. Je höher der Stress, umso eher kann es sein, dass persönliche Themen getriggert werden und Muster aktiv werden, die in anderen Hirnarealen als dem Neokortex („Verstand“) abgespeichert sind: unbewusst wird ein ähnliches Körpererleben im Stammhirn erinnert und in Verbindung mit einem bereits „erprobten“ Reaktionsmuster gebracht. Und schnell fallen wir in alte Problemschleifen und Verhaltensmuster, selbst wenn wir uns etwas anderes vorgenommen haben. Im schlimmsten Falle landen wir in einer Schockstarre („Freeze“, Angst/Panik) oder einem (energetischen) Kollaps („Faint“, Depression) und werden handlungsunfähig. Es ist zwar dennoch weiter möglich, mehr oder weniger im Alltag zu „funktionieren“, doch in eingeschränktem Zustand.
Um mit schwierigen Situationen umgehen zu können und dem eigenen Stress nicht ausgeliefert zu sein, bzw. um etwas zu verändern, nützt der Verstand, der reine Wille eher wenig und Gespräche oder Erkenntnisse allein reichen nicht aus. Das autonome Nervensystem ist, wie der Name schon sagt, nicht willentlich beeinflussbar, sondern nur indirekt.
Und hier kommt die Arbeit mit dem Körper ins Spiel.
Unser Körpergefühl beeinflusst unser Lebensgefühl – und umgekehrt.
„Wir haben die Chance, eine enorme Befreiung zu erleben, wenn in alten Traumata gespeicherte Überlebensenergie sich in Lebenskraft für das Jetzt umwandelt.“ (S.14)
Unser Körper reagiert auf unsere Gedanken. Und die Interpretation unserer Gefühle geschieht – unbewusst und blitzschnell – anhand von Körperempfindungen. Daher geht es darum, die im Körper festgehaltene Spannung loszulassen, indem der Körper bewusst wahrgenommen und erforscht wird und sich darüber das Körpergefühl verändert, so dass sich von innen heraus eine Flexibilität und/ oder neue Handlungsmöglichkeiten ergeben.
Warum ist das Spüren so wichtig?
Reicht es nicht auch, sich in einen schönen Tagtraum zu flüchten?
Nein.
Da wir unsere Gefühle über unsere Körperempfindungen registrieren und Gefühle, Körperempfindungen und Gedanken sich gegenseitig beeinflussen, brauchen wir den Körper. Zudem können sich nur über das Spüren die neuen (positiven) Erfahrungen nachhaltig im Gedächtnis verankern.
„Es ist ein Unterschied, ob wir irgendwo glücklich schweben oder ob wir den Raum in unserem Körper einnehmen und darin zu Hause und präsent sind. Präsenz braucht den Körper (…) Lebenskraft kann man nur im Körper spüren.“ S.47
Wie geht Spüren? Freundliche Aufmerksamkeit, Stresslevel und parasympathischer Shift.
Beim Spüren geht es um eine wertfreie Form des Erlebens von Verbundenheit mit uns selbst.
Essentiell dabei ist eine Haltung des Wohlwollens, eine freundliche Aufmerksamkeit für den eigenen Körper, eine Qualität von Aufmerksamkeit, mit der wir uns dem Körper zuwenden, um wahrzunehmen ohne zu bewerten oder zu interpretieren. Gleichzeitig gilt es das Stresslevel zu beobachten und einzuschätzen (um ggfs. rechtzeitig gegenzusteuern), wobei es langsam und kontinuierlich oder auch ganz plötzlich ansteigen kann. Dabei ist es wichtig, sehr achtsam für den eigenen Körper und seine Signale zu sein.
Hilfreich dabei kann auch eine Haltung aus einem inneren Beobachter heraus sein, um eine gewisse Distanz zu sehr starken Gefühlen herzustellen, um nicht in einen Sog von Traumagefühlen hineingezogen und erneut überwältigt zu werden, denn Nachspüren ist dann Ressource, wenn es bewältigbar bleibt.
Nachspüren ist also nicht immer um jeden Preis angesagt. Gemeint ist hierbei allerdings nicht eine Form von Ablenkung, wobei wir dissoziieren, also aus der Verbindung zu uns aussteigen würden, sondern dass wir weiterhin im Spüren verbleiben, jedoch den Fokus dabei so verlagern, dass Ressourcen spürbar werden, um sich dann wieder erneut dem Belastenden zuzuwenden und es somit zu verarbeiten. Ebenso wichtig ist auch das Gewahrsein darüber, wann der Körper wieder in einen entspannteren Modus, ins „Herunterfahren“ kommt, nämlich dann, wenn der Wechsel vom sympathischen Teil des Nervensystems (Aktivierung) in den parasympathischen Teil (Entspannung) erfolgt (= parasympathischer Shift). Denn auch hierfür gibt es beobachtbare Signale, wie z.B. ein tiefer Seufzer, ein tiefes Atemausstoßen (reflektorischer Atemzug), Gähnen usw.
Was sind Ressourcen?
„Wenn wir uns dem Dunkleren zuwenden wollen, brauchen wir einen Anker im Hellen.“
(Verena König)
Neben den verschiedenen Basisübungen zum Gewahrsein des Körpers sind, wie oben bereits erwähnt, Ressourcen ein wichtiges Gegengewicht zum Stresserleben.
Ressourcen…
…sind unsere individuellen inneren, äußeren oder relationalen Kraftquellen/ Anker, die ein gefühltes Erleben von Sicherheit oder Wohltat ermöglichen.
…helfen uns dabei, uns mit unserer Fähigkeit zu regulieren in Kontakt zu bringen.
…sind Brücken zur Verbindung mit dem Hier und Jetzt oder mit uns selbst.
…sind bereits Teil der angestrebten Lebensqualitäten.
Ressourcen ermöglichen ein Verschieben der Aufmerksamkeit, ohne dabei auszublenden oder zu verdrängen.
Sie dienen also nicht der Ablenkung oder „positivem Denken“. Ressourcen unterstützen vielmehr das Präsentwerden und ermöglichen so ein bewusstes Pendeln zwischen zwei Polen: dem Kraftspendenden und dem Belastenden. Ressourcen mindern Gefühle des Ausgeliefertseins und stärken das Selbstwirksamkeitserleben, indem sie dabei helfen, über das bewusste Spüren der Kraftquelle das Sicherheitsempfinden im Körper zu erhöhen, um sich auf diese Weise dem Belastenden zu nähern und somit die Kapazitäten für unterschiedliche Erlebnisqualitäten zu erweitern.
Es geht also darum, Kraft aus der Ressource zu tanken, um sich dann wieder dem Problem zuzuwenden: wie erlebe ich es jetzt, wenn ich die Kraft in mir fühle, was hat sich (vielleicht auch nur ein klitzekleines bisschen) verändert?
Ressourcen helfen dann, wenn wir sie spüren, wenn wir sie verkörpern!
Trauma – Verlust von Ressourcen, Überlebensstrategien als Ressource.
Trauma führt zu einem Mangel bzw. Verlust an Ressourcen.
Häufig werden Ressourcen dann nicht mehr wahrgenommen oder sogar gemieden, z.B. aufgrund von Erwartungen.
Unser autonomes Nervensystem überprüft kontinuierlich Signale von innen, außen und zwischenmenschlich auf Hinweise von Sicherheit oder Gefahr und aktiviert entsprechende Antworten darauf. (Neurozeption)
Dies geschieht permanent und außerhalb unserer bewussten Kontrolle.
Traumaerfahrungen zerreißen unser Sicherheitsempfinden und sensitivieren diese Vorgehensweise des Nervensystems, sie erhöhen die Wachsamkeit unseres Nervensystems für Gefahr, für (gefährliche) Reize und Signale (Hypervigilanz), um schnellstmöglichst Sicherheit wiederherzustellen.
Mit diesem Fokus erfährt das Nervensystem zunehmend eine Prägung auf Defizite, der Fokus geht weg von Ressourcen und Wohltuendem hin zu Gefahrensignalen. Auch dies geschieht autonom.
Überlebensstrategien (Symptome, Verhaltensmuster, usw) überlagern oft nährende Ressourcen. Manchmal werden sie auch selbst zu dysfunktionalen Ressourcen, z.B. eine hohe Funktionalität, zwanghaftes Verhalten, Süchte (Computer, Arbeit, Substanzen, usw)
Doch in jedem Falle sind sie erstmal Ressourcen und als solche anzuerkennen, denn in ihnen steckt reine (Über-)Lebenskraft.
Daher darfst du milde mit dir sein, wenn du sie bei dir beobachtest und sie und die Lebenskraft, die darin steckt, würdigen – sie haben dir geholfen etwas zu bewältigen, vielleicht sogar zu überleben! Und mit diesem wertfreien Blick auf diese Kraft kannst du sie vielleicht in einem fortlaufenden Prozess einmal in eine neue Ressource transformieren.
Beispiele für Ressourcen
Um wieder Ressourcen und die Fähigkeit eines ressourcenorientierten Blicks aufzubauen, braucht es Übung.
Um neue, tragfähige neuronale Netzwerke auszubilden und eine Veränderung im Nervensystem zu bewirken, braucht es ein Hinwenden im Spüren, in der Langsamkeit und mit einer Haltung des Wohlwollens.
Es handelt sich um einen Prozess, in den wir immer wieder eintauchen dürfen und bei dem wir mehr und mehr Verbundenheit und Sicherheitsempfinden aufbauen können.
Vielleicht magst du dir einmal eine Liste erstellen oder eine schöne Kiste gestalten (sog. Ressourcicum) und deine Ressourcen darin sammeln, so dass du bei Bedarf darauf zurückgreifen kannst?
Innen: Eigenschaften, Fähigkeiten, Schöne Erinnerungen, innere Haltungen (Bereitschaft, Wohlwollen, Neugierde, …), Stimmungen/ Schwingungsfähigkeit, Visionen und Ziele, erinnerte Erfolge, angenehme Körperempfindungen, Körperübungen,…
Außen: Orte, Tätigkeiten, Hobbies, Gegenstände (auch zum Ansehen oder zum Befühlen), Vorbilder, finanzielle Mittel, Musik, Natur, sinnliche Genüsse, wie Massagen, Essen, Konzerte, Düfte, …
Relational: Familie, Partner, Freunde, Kollegen, Nachbarn, Therapeuten/ Coaches, Tiere, soziales Engagement, …
Woher weißt du, dass eine Ressource dich trägt? Du spürst es im Körper!
Wenn die Ressource im Körper spürbar wäre, wo wäre das?
Wie fühlt sich diese Stelle im Körper an?
Wie sind die Körperempfindungen in dieser Erfahrung – und ist es möglich, sie jetzt zu spüren?
Wie sind die inneren Bilder?
Welche Gefühle sind dabei wahrnehmbar?
Welche Gedanken sind mit dieser schönen Erfahrung verknüpft?
Findest du einen positiven Satz über dich, der zu dieser Ressource passt (ich bin…, ich kann…)?
Buch: Isa Grüber – „Resilienz – Dein Körper zeigt dir den Weg“
„Jeder weiß, wie sich Stress im Körper anfühlt. Aber wer nimmt sich schon die Zeit, um der Erleichterung im Körper nachzuspüren, wenn der Stress sich löst? Dabei ist diese Form von Aufmerksamkeit der Schlüssel, um Resilienz und neue Muster im Körper zu verankern.“ S.44
In diesem Buch geht es darum, auf ganz praktische Weise über das Erleben des Körpers zu einem flexibleren Umgang mit Stress und Krisenzeiten zu gelangen. Es richtet sich an alle, die resilienter werden wollen, ob mit oder ohne Trauma!
(…Denn die Verbindung mit dem eigenen Körper ist auch als Prävention immer eine gute Idee!)
Isa Grüber ist erfahrene Traumatherapeutin.
Sie arbeitet seit 15 Jahren in eigener Praxis mit der körperorientierten Traumatherapiemethode Somatic Experiencing (SE) nach Peter Levine.
Obwohl auch knappe Erläuterungen der Hintergründe mit einfließen, liegt der Schwerpunkt des Buchs eindeutig auf dem (Körper-)Erleben und der praktischen Erfahrung. So stellt sie zahlreiche Basisübungen zum Gewahrsein und Erforschen des Körpers vor, die auf der Grundlage von SE beruhen. Diese Übungen können selbstwirksam, auch ohne Vorwissen oder Vorerfahrung mit SE durchgeführt werden. In der Hinführung und Anleitung begleitet Isa Grüber die Leser dabei stets traumasensibel und erläutert, wann Nachspüren angebracht ist und wann keinesfalls. Auch dem Thema Ressourcen wird viel Raum eingeräumt, spielen sie doch als Gegengewicht zum Stresserleben eine tragende Rolle. Abschließend werden noch konkrete Selbstregulationshilfen für die Emotionen Angst, Wut, Depressive Verstimmungen, Einsamkeit und Trauer vorgestellt.
„Resilienz – Dein Körper zeigt dir den Weg“ wendet sich an alle, die ihren Umgang mit schwierigen und herausfordernden Situationen flexibler und kraftvoller gestalten wollen und neugierig auf die Weisheit und Ressourcen unseres Körpers sind.
Dieses Buch ist nichts für Theoretiker, im Vordergrund steht in jedem Fall das Erleben und das Hinspüren!