Eddie Jaku
Der glücklichste Mensch der Welt
Erfahrungsbericht, Knaur, 2020, 206 Seiten
Gibt es in eurem Leben einen Menschen, der euch mit einem „liebenden Blick“ begegnet oder begegnet ist?
(Weiter unten findet ihr übrigens noch die wunderbare Kurzgeschichte „Der Segen meines Großvaters“ zum Hören!)
Eddie Jaku ist über 100 Jahre alt und einer der letzten Überlebenden des Holocaust.
Und über 100 Jahre Lebenserfahrung stecken in diesem kleinen Büchlein!
Ein Buch, welches, trotz der Thematik, nach dem Lesen eine sehr positive Wirkung hinterlässt.
Und mich nicht nur in meinem Mitgefühl für das, was Eddie widerfahren ist, zu Tränen rührte.
Ein Buch das über die Betroffenheit hinaus persönlich wird.
„Es gibt immer wieder Wunder auf dieser Welt, auch wenn alle Hoffnung schwindet. Und wenn es gerade keine Wunder gibt, können wir sie bewirken. Mit etwas Freundlichkeit kannst du einen anderen Menschen aus der Verzweiflung herausholen – und ihm vielleicht das Leben retten. Und das ist das größte Wunder von allen.“
(S. 154)
100 Jahre leben …
Eddie Jaku wird 1920 als Sohn einer jüdischen Familie geboren. Emotional eng verbunden mit seiner Familie muss er sich doch schon in relativ jungen Jahren schweren Herzens für lange Zeit von ihr trennen und in eine andere Stadt ziehen, um eine gute berufliche Ausbildung zu erhalten.
Als er seine Familie 1938 besucht, ist es die Nacht vom 9. November: die Reichspogromnacht. Er wird gefangengenommen und nach Buchenwald deportiert. Obwohl sein Vater es schafft, ihn freizubekommen, um mit der Familie nach Belgien zu fliehen, wird diese nach einiger Zeit verraten und nach Ausschwitz deportiert, wo beide Eltern ermordet werden.
Eddie überlebt diese grauenvolle Zeit, auch dank seiner Fähigkeiten als Ingenieur: die Ausbildung, die er absolvierte auf ermutigende Bitten seines Vaters hin, ohne zu wissen, dass diese Ausbildungsjahre, die letzten Lebensjahre seiner Eltern sind, die letzten Jahre hätten sein können, die er mit ihnen hätte verbringen können – die ihm einmal das Leben retten würden. Doch es sind nicht nur seine beruflichen Qualifikationen allein, auch sein unermüdlicher Glaube an das Gute im Leben, an Freundschaft und Würde, sein Festhalten an der eignen Selbstachtung und seiner mentalen Stärke sowie an der Hoffnung halfen ihm durch all die Verzweiflung hindurch.
Und so berichtet Eddie von tiefem Schmerz und Verlust und gleichzeitig von tiefer Herzens-Menschlichkeit und Achtung und tief empfundener Dankbarkeit für das Leben.
Eddie Jaku erzählt von seinen wärmenden, haltgebenden Familienerinnerungen, von seinen schlimmsten Erlebnissen im Konzentrationslager und der Zeit danach, wie er sich langsam über viele Jahre ein Leben aufbaute, ein beruflich und sozial erfolgreiches Leben, in dem er sich engagiert auch für Überlebende des Holocaust bzw. der Shoah einsetzte und dafür ausgezeichnet wurde.
Auch wenn es auf den ersten Blick so scheint, als sei Eddie mit seiner positiven Lebenseinstellung schnell wieder eine Kämpfernatur geworden, die das Leben mit einem Nach-Vorne-Blick anpackt, so dauerte es doch Jahre der Verarbeitung, der Dunkelheit danach, in denen die Traurigkeit und der Schmerz über all den Verlust und das Erfahrene überwältigend waren.
Heute blickt er auf ein 100-jähriges Leben reich an Erfahrungen und Weisheit zurück. Ein Leben, das (nach einiger Zeit wieder) lebens-und liebenswert wurde – und das ihn in seinen eigenen Worten heute „zum glücklichsten Menschen der Welt“ macht: Ein Leben, in dem das wichtigste die Verbindung zu anderen Menschen ist: seine Familie und Freunde, seine Frau, seine Kinder und seine Enkelkinder.
… und ein Erfahrungsschatz für dich.
„Das ist wohl das Wichtigste, was ich jemals gelernt habe: Du kannst im Leben nichts Größeres leisten, als von einem anderen Menschen geliebt zu werden. Ich kann das gar nicht genug betonen (…) Ohne Freundschaft sind wir verloren. Ein Freund ist jemand, der dich daran erinnert, dich lebendig zu fühlen.“
(S. 95)
Das Buch ist leicht zu lesen.
Insgesamt schlägt es trotz der dahinterstehenden Ereignisse des Holocaust einen sehr positiven Grundton an und betont immer wieder den Glauben an das Gute im Menschen und im Leben und das Festhalten an der Hoffnung. Doch an Ernst verliert es dennoch nicht und das tiefe Leid wird ebenso deutlich.
Und doch – das positive Gefühl bleibt. Und das hängt mit der Erzählweise zusammen – denn Eddie Jaku spricht LeserInnen immer wieder direkt an …
Ich muss zugeben, dass ich das zunächst ein wenig kitschig empfand, doch schon bald berührten mich genau diese Worte, die so persönlich gerichtet sind, zutiefst. Diese Worte, berührten mich über die bei Erfahrungsberichten und Zeugnissen dieser Art sonst auftretende Betroffenheit, Fassungslosigkeit, Traurigkeit hinaus auf einer sehr persönlichen Ebene. Und es rührte mich einige Male zu Tränen.
Denn seine Worte rühren an das eigene Leben. Sie ermutigen und machen nachdenklich, sie schenken Trost und Vertrauen und Fokus, den Blick auf das Wesentliche. Sie sind wie die Stimme eines liebevollen und gütigen Großvaters. Ein Großvater, der sich zu seinen Enkeln setzt und sie voller Liebe und Würde ansieht, um ihnen nun etwas von seinem reichen Erfahrungsschatz vieler Lebensjahre mit auf den Weg zu geben.
Es ist wie ein Segen. Ein Segen, von jemandem, der tiefes Leid kennt, aber auch die Liebe und Dankbarkeit fürs Leben. Von jemandem, der das Leben lieben gelernt hat, einfach weil es ist, weil es reich ist am Wesentlichen: Leid und Freude sind Teil eines jeden Lebens.
Was uns reich macht, ist weder Erfolg noch Geld noch Besitz, noch das Ausbleiben von Leid: es sind einzig die Tiefe unserer Beziehungen und nährende Verbindungen im Herzen.
„Manchmal wirst du weinen, manchmal wirst du lachen. Und mit etwas Glück wirst du Freundinnen und Freunde haben, mit denen du das alles teilen kannst. (…) Sei ein Freund, eine Freundin für die Welt.“
(S.201)
Eine Geschichte zum Jahreswechsel
„Der Segen meines Großvaters“
Eddie Jakus Buch erinnerte mich an eine Geschichte, die ich vor einigen Jahren das erste Mal hörte und die mich sofort berührte.
Ich finde, sie passt besonders gut in Übergangszeiten wie den Jahreswechsel und daher möchte ich sie hier noch mit euch teilen: