Christine Seidel
Wenn die Seele nicht heilen will
(Sachbuch, mvg Verlag, 2020, 240 Seiten)
Seelische Leiden sind oftmals langwierige Leiden.
Menschen mit psychischen Belastungen sind oft jahrelang in Therapie und suchen verzweifelt nach Lösungen – und erfahren häufig doch nur wenig Entlastung.
Wenn die Seele nicht heilen will – woran liegt das?
Einige Infos hierzu findest du bereits in meinem Beitrag zu Isa Grübers Buch „Was der Körper zu sagen hat“
Christine Seidels Buch „Wenn die Seele nicht heilen will“ ergänzt dieses sehr gut.
(Frau Grüber beleuchtet die Auswirkungen unerkannter Traumata vor allem auf der Erfahrungs- und Symptomebene, während Frau Seidel das Nervensystem noch mehr in den Blick nimmt).
Einführung und meine Erfahrung
Der Fokus herkömmlicher Therapien (und medizinischer Ansätze) liegt häufig auf der schnellen Beseitigung von Symptomen.
Das mag in einigen Fällen durchaus hilfreich sein.
Wenn uns jedoch Symptome über Jahre begleiten, dann liegt das oft daran, dass sie Folge gemachter, unverarbeiteter Erfahrungen, Folge von Traumaerfahrungen sind, aber nicht als solche erkannt werden.
Auch bei mir war das so.
Heute weiß ich, meine Symptome sind Ausdruck gemachter Erfahrungen, Ausdruck komplexer Traumaerfahrungen, die anders nicht bewältigt werden konnten. Symptome, wegen denen ich von Therapie zu Therapie, von Klinik zu Klinik ging, ohne dass sie jemals mit Trauma in Verbindung gebracht wurden.
Es dauerte lange, bis mich eine Therapeutin auf das Thema Trauma hinwies.
Von da an ging ich auf die Suche und je mehr ich las und mich fortbildete, umso mehr setzte sich etwas zusammen, wie ein Puzzle.
Es kam ein Puzzleteil zum nächsten und das Bild wurde immer vollständiger.
Dinge, die ich jahrelang nicht verstand, ergaben plötzlich Sinn.
Und so merkte ich erst, dass ich von vielen meiner Emotionen und Körperempfindungen über viele Jahre stark abgeschnitten war – trotz starker Ängste.
Zum Beispiel der Emotionen, die dahinterlagen.
Zudem galten für mich meine Erfahrungen in meiner Einordnung bis dahin als „normal“, wenig beachtenswert, weil ich es auch nicht anders kannte, nicht besser wusste, so dass ich es nicht hinterfragte.
Mir fehlte das Wissen über Trauma, über gesunde Bindung, über (emotionale) Gewalt und welche Auswirkungen Erfahrungen auf den Körper, Psyche und Gehirn haben.
Und leider sind (die Folgen komplexer) Traumatisierungen noch immer kaum Inhalt im Psychologiestudium, die Disziplin der Psychotraumatologie ist noch sehr jung (galt jahrelang als vernachlässigbar), so dass auch TherapeutInnen ohne Zusatzausbildungen oftmals das Wissen fehlt, um Traumafolgestörungen zu erkennen bzw. damit umzugehen.
Warum das Wissen über Trauma wichtig ist
Traumatische Erfahrungen verändern nicht nur unser Fühlen und Denken, sie haben enormen Einfluss auf das Verarbeiten, unseren Körper, unsere Identität und unser Beziehungserleben (in der Welt).
Sie beeinflussen die Verbindung zu uns selbst, zu unserem Körper und zu anderen, unseren Umgang mit Grenzen und unser Selbstwirksamkeitserleben.
Sie beeinflussen unser ganzes So-Sein.
Bewusste Heilungsprozesse nach Traumaerfahrungen sind daher langsame Prozesse.
Es ist von wesentlicher Bedeutung, dass wir die Prozesse im Körper verstehen, aber auch, welche Erfahrungen und Emotionen dahinter stehen, so dass wir diese ganzheitlich und auf allen Ebenen, im Körper, in der Psyche und im Gehirn durch korrigierende und heilsame Erfahrungen integrieren können.
Buchvorstellung – Wenn die Seele nicht heilen will
Christine Seidels Buch „Wenn die Seele nicht heilen will“ eignet sich gut als Einstieg in das Thema Trauma und Nervensystem.
Christine Seidel ist ausgebildete Tiefenpsychologin und mehrfach ausgebildete Traumatherapeutin und arbeitet mit Somatic Experiencing (nach Peter Levine).
Das Buch umfasst drei Bereiche:
Psychoedukation (Wissensvermittlung über Trauma), Therapiemöglichkeiten, posttraumatisches Wachstum.
Im ersten Teil wird ein grobes Gerüst an Grundlagen vermittelt:
- Was ist ein Trauma und welche Arten von Trauma gibt es? (z.B. was sind Monotraumatisierungen, Komplexe Traumatisierungen, Retraumatisierungen)
- Wie äußern sich die Folgen von traumatischen Erfahrungen in diversen Symptomen? (wie z.B. in Flashbacks, bei Triggern, Depressionen, Angststörungen, Burn-Out, psychosomatische Störungen, Unfähigkeit stabile Beziehungen einzugehen)
- Was geschieht dabei im Nervensystem?
- Warum werden Symptome häufig nicht als Traumafolge erkannt? Und wie kann es sein, dass Symptome erst nach vielen Jahren des Funktionierens und Kompensierens auftreten?
- Warum können manche Therapiemethoden retraumatisierend wirken?
Im zweiten Teil gibt Frau Seidel einen guten Überblick über verschiedene Therapieformen.
Neben den klassischen Therapiemethoden stellt sie auch eine erste Auswahl (!) an alternativen Therapieansätzen vor (z.B. Somatic Experiencing, Trimb, Brainspotting, PITT, Ego-State, EMDR usw.).
Dieser Teil half mir, mich erstmals besser zu orientieren unter der Vielzahl an Angeboten.
Schön ist auch, dass Frau Seidel das Thema orthomolekulare Medizin und die Versorgung des Körpers (Mineralstoffhaushalt etc) anspricht, denn Kompensationsstrategien und eine hohe innere Stressbelastung können den Körper (und die Nebennieren) auf Dauer erschöpfen.
Ergänzt wird dies durch einen kleinen praktischen Teil mit Anleitungen zur ersten Hilfe bei Dissoziation und Übungen zur Selbstregulation.
Im letzten knappen Teil geht es um Trauma und persönliches Wachstum und den feinen Grat zwischen Spiritualität/ Sinnsuche als Anker oder als Dissoziationsverstärker.
Wo liegen die Grenzen von Achtsamkeit und Meditation, wenn sie auf Trauma treffen bzw. wie wichtig ist ein traumasensitives Vorgehen, so dass hieraus Chancen werden?
Da dieser Teil sehr spirituell war, konnte ich persönlich zugegeben nicht ganz so viel damit anfangen, was aber für mich nicht ins Gewicht fällt, da ich dieses Buch sonst guten Gewissens empfehlen kann!
Exkurs: Lücke in unserem derzeitigen Gesundheits- und Versorgungssystem
Christine Seidel weist in ihrem Buch auch auf eine große Lücke in unserem derzeitigen Gesundheits- und Versorgungssystem hin:
Die Psychotraumatologie steckt noch in den Kinderschuhen.
Das (neurobiologische) Fachwissen über Trauma gehört leider weder im Psychologie-, noch Medizinstudium (und leider auch in sämtlichen weiteren Sozialberufen) nicht zum Standard des Studiums.
Es erfordert extra Ausbildungen.
Die kassenärztlich zugelassenen Richtlinien für Therapien sind ausschließlich: Psychoanalyse, Tiefenpsychologie und Verhaltenstherapie, die sich für Trauma wenig eignen. Christine Seidel spricht hier aus professioneller Sicht, da sie auch eine tiefenpsychologische Grundausbildung hat.
Auch bei Weiterbildungen gilt: die einzige Traumatherapieform, die im Rahmen eines Richtlinienverfahrens über die Krankenkasse derzeit abgerechnet werden kann, ist EMDR, weshalb andere Traumatherapieverfahren kaum in den Fokus rücken. EMDR ist allerdings im Wesentlichen für Schocktrauma geeignet, bei komplexen Traumatisierungen kann es retraumatisierend wirken, was nicht immer bekannt ist.
Generell gilt daher: Je mehr Ausbildungen im Bereich Trauma, umso besser. Attraktiver werden somit häufig TraumatherapeutInnen, die (aufgrund anderer Ausbildungen) privat abrechnen. Das führt zu einem großen Dilemma in der Versorgung, denn viele Betroffene können sich dies nicht leisten.
Es muss sich also noch viel ändern, damit Hilfe für alle zugänglich wird!
Fazit
Christine Seidels Buch „Wenn die Seele nicht heilen will“ eignet sich gut als Einstieg in das Thema Trauma und Nervensystem.
Es bietet eine gute Zusammenfassung von Basisinformationen über Trauma und die damit einhergehenden psychodynamischen und körperlichen Prozesse.
Die Autorin stellt zahlreiche Behandlungsansätze vor, benennt gleichzeitig deren Möglichkeiten und auch Grenzen.
So wird deutlich, dass Unterschiede in einzelnen Methoden bestehen, die auch zu beachten sind, um Retraumatisierung zu vermeiden oder ganzheitlich und langfristig zu heilen. Ergänzt wird dies durch einen kleinen Übungsteil mit ersten Anleitungen zur Selbsthilfe.
Ein umfangreicher Adressteil für Anlaufstellen im D-A-CH-Raum vervollständigt das Buch, so dass es insgesamt eine besonders wertvolle Orientierungshilfe bei der Suche nach geeigneten Behandlungsmethoden darstellt.
Dieser Punkt könnte auch für Therapieerfahrenere interessant sein!