Geschichte einer Psychose:
Lize Spit
Ich bin nicht da
(Roman, S. Fischer, 2022, 576 Seiten)
Mit „Ich bin nicht da“ startete mein Lesejahr 2023 mit einem absoluten Lesehighlight!
Ich bin gespannt, ob das noch ein Buch toppen wird, denn Lize Spit legte die Messlatte schon sehr hoch!
Bereits ihren ersten Roman „Bis es schmilzt“ fand ich stark. Der psychologische Aufbau der Geschichte, die Idee dahinter und das mehr als überraschende Ende hatte regelrecht das Potential auf Lesende gleichermaßen genauso genial wie verstörend zu wirken.
Auch in ihrem neuen Roman geht sie keineswegs zimperlich mit LeserInnen um, was ihn aber umso authentischer macht.
„Ich bin nicht da“ ist noch um einiges intensiver, viel intimer als der Vorgänger.
Worum geht es?
Leontine und Simon sind seit Langem ein Paar. Sie sind ein gutes Team, sie sind sich sehr vertraut und standen sich auch schon in schwierigen Zeiten zur Seite.
Doch dann entwickelt Simon Anzeichen einer Psychose …
Lange noch bleiben die Ungläubigkeit, die Zweifel, das Nicht-Wahrhaben wollen.
Das Chaos, die Katastrophe: lange nicht sichtbar.
Die Erkenntnis, das Eingestehen: kommt erst später – zu spät.
Und plötzlich schwindet die bunte Lebendigkeit, plötzlich gibt es nur noch schwarz-weiß. Manie und Depression.
Und nichts bleibt mehr, wie es war.
Was mich berührte
Der Roman bewegte mich sehr – auch noch Tage nach dem Lesen!
Lize Spit schafft es beim Lesen sämtliche Gefühle spürbar werden zu lassen.
Nicht selten erwischte ich mich in einem Konglomerat aus ambivalenten Gefühlen und beim Einfühlen in Betroffenen-, Angehörigen-Seite und als Beobachterin zur selben Zeit: ein Gefühlscocktail aus Lachen und Weinen, tiefem Mitgefühl, Schmerz und Traurigkeit, ohne dabei den Ernst der Not einer Person in Frage zu stellen.
Großartig geschrieben!
(Mein Fazit findet ihr am Ende des Beitrags)
Die Geschichte einer Psychose
„Er muss es von sich aus einsehen, und wenn das nicht geschieht, dann hat auch das seinen Grund, dann bedeutet das, dass sein Körper ihn davor zu schützen versucht. Psychosen sind konfrontierend, auch für den Patienten selbst.“ (S.360)
Meisterhaft beschreibt Lize Spit den Kontrast zweier Lebensabschnitte, zwischen dem Davor und dem Danach: die anfängliche, innige Verbindung, der gegenüber dann am Ende immer mehr die Co-Abhängigkeit, Bindungszerfall und die Einsamkeit stehen.
Lise Spit lässt von Beginn an sehr tief in die Verbindung von Leo und Simon blicken, mit überaus intimen Einblicken in kleinste Details innerhalb der Beziehung, was gewollt und gekonnt ist: denn die Wucht und Wirkung der Veränderung, die Wucht der zunehmenden Entfremdung durch die Erkrankung, die Wucht des Zerfalls dieser innigen Vertrautheit die es einmal gab, wird hier nur umso deutlicher spürbar.
Nichts ist mehr wie zuvor. Nicht das kleinste Detail.
Die kleinen wenigen Momente an Nähe und minimalster Lebendigkeit werden zu Hoffnungsschimmern, zu letzten Ankern zum Festkrallen.
Das Leben wird zu einem einzigen Schleudergang im Bangen und Hoffen und Enttäuschtwerden.
Auch nach der Diagnose und Akutbehandlung, denn während das eingeweihte Umfeld denkt, es gehe ab nun aufwärts, geht der Kampf für Leo und Simon weiter.
Die belgische Autorin beschreibt die nervenaufreibende und zermürbende Zeit mit ständig wechselnden Medikamenten und Nebenwirkungen und wie der Alltag damit zu einem Spießrutenlauf wird.
Was könnte Halt geben, was als nächstes triggern?
Und: ist überhaupt noch etwas von der „alten“, geliebten Person da?
Wie soll man im Freundeskreis erklären, was passiert?
Über das Absurde sprechen: so schwer, wenn man doch selbst fast untergeht, wenn man selbst kaum mit Verarbeiten hinterherkommt, wenn die eigene Realität so fern ist von der (sozial erwarteten) „Normalität“.
Da kommen Gefühle wie Scham und Selbstzweifel, wieviel will und kann man wirklich erzählen?
Und die Frage nach Würde, den Spagat zwischen Einsamkeit und Restwürde bewahren vs. Verständnis und Blossstellen.
Und wie ist die Gefahr von Selbst- bzw. Fremdgefährdung einzuschätzen?
Angehörige und Betroffene – Stigmatisierung und Einsamkeit
„Um sich einsam zu fühlen, braucht es nicht viel, lediglich einen anderen, der den Ernst deiner Situation unterschätzt.“ (S.305)
Lize Spit zeigt die vielen Facetten der zahlreichen Auswirkungen psychotischen Erlebens (Schizophrenie) mit bipolaren Episoden auf Beziehung, Körper, Emotion, Denken, Verhalten, Identität, Finanzen, soziale Teilhabe und das soziale Umfeld auf.
Der Roman beschreibt eindringlich die große Not, die mit einer Psychose einhergeht, und zwar auf beiden Seiten, bei Betroffenen und Angehörigen.
Vor allem Einsamkeit und Ausgrenzung sind große Themen, mit denen sich Betroffene und Angehörige auseinandersetzen müssen, denn das Stigma, Unverständnis und Ablehnung sind groß.
Psychotische Störungen, psychotisches Erleben ist in der Gesellschaft ein Tabu.
Der Roman berührt mit einer großartigen Schreibweise, in der so viele Gefühle spürbar bewegt werden:
Vertrautheit, innige Verbundenheit, Liebe,
Lebendigkeit und Begeisterungsfähigkeit.
Dann: Verunsicherung. Ungläubigkeit. Selbstzweifel.
Das anfängliche Leugnen, das Nicht-wahrhaben-wollen.
Hoffnung, Sehnsucht.
Hilflosigkeit und Ohnmacht: zuschauen zu müssen, wie alles entgleitet.
Einsamkeit, bei Angehörigen als auch bei Betroffenen: nach außen zum Umfeld hin und innerhalb der Beziehung
Zerrissenheit zwischen Selbstaufgabe und Mitgefühl.
Selbstverlust, Zerfall von Identität, Entfremdung.
Die Scham, Schuldgefühle, Trauer, Wut und Verzweiflung, die daraus resultieren.
Apathie.
Manie und Depression.
Weiß und schwarz.
Und keine Farben mehr dazwischen.
Fazit
„Ich bin nicht da“ von Lize Spit ist die Geschichte einer Psychose.
Es ist die Geschichte eines Paares, in dessen Beziehung nach dem Ausbruch der ersten Symptome alle Farben des Lebens verschwinden und nur noch schwarze und weiße Episoden – manische und depressive – existieren.
Der Roman ist emotional zutiefst bewegend, intensiv, intim, denn die Autorin schafft es, beim Lesen Mitgefühl, Schmerz und Traurigkeit, Lachen und Weinen, ja, selbst widersprüchliche Gefühle gleichzeitig, hervorzurufen.
Trotz der 600 Seiten und der heftigen Thematik gibt es keinerlei Längen, die Spannung bleibt durchweg hoch.
Die starke Authentizität, die Tiefe und Ernsthaftigkeit mit der Lize Spit das Thema behandelt, zeigen in aller Deutlichkeit die Dimension der tragischen Einflussnahme psychotischen Erlebens auf den Wesenskern von Betroffenen.
Und gleichzeitig ist die Geschichte ein Sprachrohr für Angehörige, die oftmals einsam und abgeschottet einen zermürbenden Kampf in innerer Zerrissenheit führen gegen eine Erkrankung, die so wenig gesellschaftskompatibel, so ein großes Tabu ist.
Einen verzweifelten Kampf, den geliebten Menschen doch noch irgendwo unter der Oberfläche zu finden, zu retten, während das eigene Leben plötzlich in einen scheinbar endlosen Kreislauf aus Hoffnung und Enttäuschung versetzt wird, bei dem alles zu entgleiten droht!
Lize Spit schreibt überaus intensiv und detailreich, beschreibt einfühlsam ein breites Spektrum an menschlichem Erleben, von einer sprühenden Euphorie über eine brutale Rohheit bis hin zu einer empfindungslosen Taubheit in dessen Mitte die Zartheit und Zerbrechlichkeit des blühenden Lebens stehen.
Dieser Roman geht direkt unter die Haut!