Jesper Juul
Ein Plädoyer für
Gleichwürdigkeit
„Kinder brauchen die Möglichkeit, unter Wahrung ihrer persönlichen Integrität Ja zu sagen, statt einfach zu gehorchen oder sich bedrückt zu fügen.“
Jesper Juul
Als ich das erste Mal etwas von Jesper Juul las, war ich begeistert von seinem Ansatz, seinen Gedanken, seiner (fast schon revolutionären) Sichtweise auf das Miteinander zwischen Eltern und Kind. Mittlerweile habe ich einige Bücher von ihm gelesen und jedes Mal ging es mir aufs Neue so, dass ich bei jeder einzelnen Seite einfach nur zustimmend nicken und laut „Ja!“ sagen konnte.
Jesper Juul (1948 bis 2019) war ein dänischer Familientherapeut und Autor zahlreicher Bücher.
Er war Mitbegründer von FamilyLab International und anderen Beratungs- und Ausbildungsprojekten, arbeitete darüber hinaus in Intervallen über viele Jahre hinweg mit Flüchtlingen und Kriegsveteranen in Kroatien.
Jesper Juul ebnete wie kein Zweiter den Weg hin zu einer gleichwürdigen Beziehung zwischen Eltern und Kind, bei dem beide Seiten die gleichen Rechte auf Würde, auf Anerkennung ihrer Verletzungen und Grenzen, ihrer Bedürfnisse und Träume haben.
Die Verantwortung für das Wohlergehen von Beiden hingegen liegt bei den Eltern allein.
Sein beziehungsorientierter Ansatz geht noch einen Schritt weiter als der bindungsorientierte Fokus – denn es geht nicht nur um Sicherheit, sondern um die ganz persönliche Beziehung und einen echten, individuellen Kontakt.
Mit diesem Ansatz war er seiner Zeit weit voraus, war Vordenker einer neuen Qualität von Miteinander und Beziehung.
Werte als Grundlage für Beziehung
Jesper Juul führte mit seinem Bestseller „Dein kompetentes Kind“ (1995) den Begriff der Gleichwürdigkeit ein und prägte ihn wie kein anderer als DAS Basisfundament für eine Eltern-Kind-Beziehung. Gleichermaßen betont er als unerlässliche Werte für gelingende Beziehung, insbesondere von Seiten der Eltern Verantwortung, Authentizität, Integrität, Empathie und die Bereitschaft zu lernen und zu wachsen. Während uns behavioristische Ansätze zur reinen Verhaltensoptimierung und Erziehung von Kindern, bei der Funktionalität, Anpassung zu Lasten der Integrität und ggfs das Beseitigen von Auffälligkeiten im Fokus stehen, von der Verbindung mit uns selbst und unserem Kind entfernen, führt die Begegnung in Gleichwürdigkeit in eine echte Beziehung die langfristig trägt und beide Seiten nachhaltig nährt.
Juul macht uns deutlich, dass es noch etwas anderes gibt zwischen neoromantischem Denken von dauernder Harmonie und Konfliktvermeidung, wobei aber Orientierung und Möglichkeiten fehlen, etwas über sich und andere zu lernen und resilienter zu werden, und neokonservativem Denken, das mit Disziplin und Gehorsam darauf abzielt, Kinder nach Vorstellungen zu lenken, ohne dabei ihre Integrität und Individualität zu wahren oder mit ihnen in Beziehung zu sein.
Gleichwürdig, persönlich und kompetent – in Verbindung sein
Kinder brauchen ein Gegenüber, das sich mitteilt, in seiner Individualität, mit seinen Grenzen und Bedürfnissen, ein Gegenüber das persönlich in Beziehung tritt.
Kinder brauchen ein Gegenüber, das sich selbst ernst nimmt und das Kind gleichermaßen.
Das um die eigene Individualität weiß, und andere in ihrer Unterschiedlichkeit und Einmaligkeit gleichermaßen anerkennt.
Das authentisch bleibt und echt statt pädagogische Masken und autoritäre Rollen anzuziehen.
Das auch etwas von sich preisgeben, über eigene Empfindungen und Emotionen sprechen kann, das auch Fehler eingestehen und sich entschuldigen kann, statt dies nur vom Kind oder Jugendlichen zu verlangen.
Eine Beziehung ist ein Geben und Nehmen. Egal, in welchem Alter. Kinder geben altersgemäß, sie sind in jedem Alter kompetent, auch etwas zur Beziehung, zur Gemeinschaft beizutragen, aber der Erwachsene muss es ihnen gleichtun. Erst dann ist die Beziehung eine verbindende Beziehung.
Denn auch das Kind hat Grenzen, Verletzungen, Bedürfnisse, Kompetenzen, Würde und eine individuelle Persönlichkeit. Es braucht ein Miteinander, das genau darüber in Kontakt tritt, beide Seiten als gleichwertig betrachtet und bei Konflikten auch die Möglichkeit gibt, zu verhandeln.
So wahren sich Erwachsene nicht nur ihre Authentizität und Integrität, sondern Kinder auch ihre Würde, Integrität und Individualität, sie entwickeln eine Eigenverantwortlichkeit, ebenso wie Resilienz, Selbstachtung und Selbstvertrauen sowie Empathie und Konfliktfähigkeit.
Es ist z.B. besser, eigene Grenzen aufzuzeigen, statt Grenzen für Kinder zu definieren oder mit Lob und Tadel zu beurteilen.
„Ich will, dass/Ich will nicht, dass … weil ich … (Kopfweh bekomme davon/ich es gerne ordentlich habe/ich Zeit für mich brauche“ … etc.)“ statt „das macht man nicht“ oder „das ist so, weil ich es sage“ oder „wenn du nicht …, dann …“)
Emotionale Präsenz schafft Beziehungsqualität
Das Verhalten von Kindern ist ein Produkt ihrer Beziehung zu den Eltern.
Und das hängt von der Verantwortungsqualität der Eltern ab.
Auffälliges Verhalten von Kindern ist ein Hinweis darauf, dass Eltern ihre Verantwortung nochmal neu übernehmen und etwas in ihrem eigenen Verhalten ändern dürfen.
Hier geht es nicht darum, Respekt einzuflößen oder das Kind noch mehr zu lenken, sondern um die Verantwortung für die Qualität der Beziehung zu den Kindern, um emotionale Präsenz sowie um die Anerkennung persönlicher Kompetenzen von Kindern.
Denn das hat direkte Auswirkungen auf das Kind.
Auffälliges Verhalten hängt von den Rahmenbedingungen ab. Die Verantwortung hierfür und für Konflikte kann nicht an die Kinder delegiert werden.
Schuld und Scham, die auf Kinder abgewälzt werden, wenn etwas nicht gefällt, sind in hohem Grad schädlich für die Entwicklung, verletzen sie doch die Integrität eines Kindes.
Und wir schaden so nicht nur den Kindern, sondern auch unserer Beziehung zu ihnen nachhaltig.
Denn die Eltern tragen mit ihrer (emotionalen) Präsenz, Empathie und emotionalen Greifbarkeit erst dazu bei, ob sich das Kind sicher, mit Halt und Orientierung, in seinen Emotionen fühlen kann oder nicht.
Besonders in konfliktreichen oder emotionalen Situationen kommt es nicht darauf an, was wir tun, sondern ganz besonders darauf, wie wir es tun:
zugewandt oder abweisend, die Bindung haltend oder abbrechend.
Juul macht auch immer wieder deutlich, wie entscheidend die Sprache, unsere Wortwahl, unser Tonfall, in diesem Zusammenhang sind.
Gleichwürdigsein
Kinder wollen Mensch sein, Subjekt sein, mit ihrer eigenen Individualität, ihren Wünschen, Bedürfnissen, Verletzungen und Grenzen gesehen werden.
Und mit ihren Kompetenzen. Genauso wie Erwachsene.
Und sie haben ein Recht darauf!
Lediglich die Verantwortung dafür, genau diese Aspekte zu würdigen und im Blick zu haben, bleibt bei den Eltern.
Wenn kompetente Kinder zu kompetenten Erwachsenen werden sollen, dann brauchen sie keine Normen, starre Gesetze, Strenge oder Konfliktvermeidung.
Wenn Kinder zu kompetenten Erwachsenen werden sollen, dann brauchen sie kompetente Beziehungspartner.
Dann brauchen sie Beziehung. Beziehungen, in denen sie in ihrem ganzen Sein gesehen werden.
Eine solche Beziehung ist gleichwürdig. Langfristig. Sie nährt.
Sie schafft eine Basis für ein ganzes Leben, sie schafft Vertrauen.
Und sie schafft echte Nähe und Verbindung. Und darauf kommt es in einer Beziehung an.
Meine Buchempfehlungen von Jesper Juul:
Dein kompetentes Kind
Erstveröffentlichung 1995, rowohlt
Der Klassiker von Jesper Juul und immer noch aktuell: über Werte und Beziehungsgestaltung zwischen Eltern und Kind bzw. Jugendlichen.
Ein Plädoyer für Gleichwürdigkeit, für die Anerkennung des Kindes als eigenständige Persönlichkeit mit eigenen Bedürfnissen, Grenzen und Kompetenzen.
Leitwölfe sein
2016, Beltz
Kinder führen und begleiten, so dass alle daran wachsen können: die Kindheit legt das Fundament für eine spätere vertrauensvolle Beziehung zu den Eltern im Erwachsenenalter.
Respekt, Vertrauen & Liebe
2020, Beltz
Das Buch erschien nach Juuls Tod und enthält mehrere seiner Vorträge, die sich aber wie ein zusammenhängender Text lesen. Nicht nur für Eltern sondern auch für Pädagogen unglaublich wertvoll! Wann und wie Beziehungen langfristig tragen und nähren und wie sich das Beziehungsverhalten der Erwachsenen zu Kindern und Jugendlichen auf das Verhalten und die Entwicklung von ihnen auswirkt.
Liebende bleiben
2017, Beltz
Verschriftlichung einiger Elterngespräche, die Juul führte. Über die Wichtigkeit der Paarbeziehung und die Wichtigkeit ihr Raum zu geben und wie sich das auf die Beziehung zu den Kindern und untereinander auswirkt.
Vier Werte, die Kinder ein Leben lang tragen
2012, Gräfe und Unzer
Ergänzend interessant: Juul antwortet auf Fragen von Eltern zum Umgang mit ihren Kindern und verdeutlicht dabei wie sich die Basiswerte Gleichwürdigkeit, Integrität, Authentizität und Verantwortung auf die Beziehung auswirken.