Ariston Verlag | Sachbuch | 2017 | 272 Seiten
Neueste Erkenntnisse der Hirnforschung zeigen immer mehr, dass unser Gehirn sich in dauernder Wechselwirkung mit der Umwelt entwickelt und von unseren frühesten Beziehungserfahrungen geprägt wird. Und dass es sich bis zu unserem Tod weiterhin mitentwickelt (Neuroplastizität).
Doch damit wird nicht nur unser Gehirn, sondern auch unser Körper – unser Nervensystem, unser Immunsystem, unser Hormonsystem und unser Organsystem mit beeinflusst.
Wenn wir auf unser Leben also Einfluss nehmen wollen, um glücklich und zufrieden zu leben, ist es von Vorteil, die Funktionsweise unseres Gehirns, die prägenden Einflüsse auf es verstehen zu lernen und zu erkennen, wie stark wir von unseren Emotionen und unserem Unterbewusstsein (also den individuellen Prägungen, die dazu geführt haben, dass unser Gehirn so funktioniert wie es eben dann funktioniert) bestimmt werden. Und nicht zuletzt, welche Wirkung das wiederum auf unser Körpersystem hat.
Denn nicht Geld, nicht Leistung, nicht Dauerspaß erfüllen uns langfristig, sondern vier klar definierte Säulen, die im Buch vorgestellt werden, von denen allen voran die wichtigste Säule die gesunder Bindungen ist.
Ich fühle, also bin ich
Zu einem glücklichen Leben gehören laut jüngsten Ergebnissen der Hirnforschung vier wichtige Säulen:
- Die Qualität unser gelebten Beziehungen
- Selbstwirksamkeitsgefühl (das Gefühl, etwas zu bewirken) und Sinnstiftung
- ein ausgeglichener Stresshaushalt
- Kohärenzgefühl (Werte und Vorstellungen vom Leben stimmen mit dem Leben, das wir leben überein)
Hans-Otto Thomashoff geht im ersten Teil des Buchs auf die Funktionsweise des Gehirns und die prägenden Einflüsse auf dessen Entwicklung ein: wie uns (vor allem unsere frühen) Bindungserfahrungen bis ins Erwachsenenleben hinein bestimmen und wie eingefahrene Muster entstehen. Außerdem verdeutlicht er die enorme Anpassungsleistung und –fähigkeit unseres Gehirns an Ereignisse. Zudem erfahren wir sehr viel über die Auswirkungen von Bindungserfahrungen im Hormonsystem.
Im zweiten Teil geht es dann um die Konsequenzen, die wir daraus für unser Leben ziehen können.
Besonders Teil eins fand ich so überaus bereichernd, dass ich auch hier einige Punkte in Kurzform erläutern mag:
Sicherlich, wer sich schon länger damit befasst, für den ist es nichts Neues, zu hören, dass das, was sich durch unsere frühen Bindungserfahrungen in unsere Hirnstruktur eingeprägt hat an Glaubenssätzen und Lebenseinstellungen, sich zu eingefahrenen Reaktionsmustern entwickelt, so dass unsere Handlungsimpulse, die im Unterbewusstsein gesetzt werden, auch später davon beeinflusst werden. Das Gehirn spart so Energie. Soll Veränderung geschehen, dann müssen wir sehr gezielt in die Selbstbeobachtung und Reflektion gehen, müssen also auf unser Unterbewusstsein zugreifen.
Daher ist es unerlässlich den Grundaufbau und die Funktionsweise zu verstehen, um überhaupt zu erkennen, wann, wie und ob bzw. in welchen Fällen ein Eingreifen möglich ist – und wann nicht. Denn die enorme Anpassungsleistung hat eine große Tragweite: Unser Gehirn reagiert direkt auf Erlebnisse, Erfahrungen und Anforderungen. Die Anpassungsfähigkeit führt aber auch dazu, dass einmal eingeschlagene Wege beibehalten werden, da sie nun in der Hirnstruktur verankert sind.
Dabei gilt die Grundregel: „Fire together, wire together“: Nervenzellen, die (wiederholt) zusammen aktiviert werden, werden untereinander vernetzt. Informationen, die zusammengehören, werden gleichzeitig wieder abgerufen. (S.36) Je intensiver dabei die Gefühlseindrücke (im Limbischen System) sind, desto nachhaltiger und schneller ist die Vernetzung. Das bedeutet, dass mitunter ein einmaliges Ereignis uns für unser gesamtes Leben prägen kann.
Die Bedeutung von Stresserleben für den Körper
Die Struktur unseres Gehirns und damit wer wir sind, wird also zum großen Teil von unserer Umwelt und Bindungseinflüssen bestimmt. Doch nicht allein unser Gehirn reagiert und verändert sich in der Vernetzung, sondern Impulse werden weitergetragen an unser Nervensystem und an unser Hormonsystem. Hormone (z.B. bei Stress, Angst, Liebe, usw.) werden als Reaktion auf Außenreize ausgeschüttet und setzen im Körper epigenetische Prozesse in Gang.
Somit bleiben Erfahrungen in ihrer Wirkung also nicht nur auf das Gehirn begrenzt (und oftmals so oberflächlich betrachtet „ja nur psychisch“), sondern haben Einfluss auf unseren Gesamtorganismus: Nervensystem, Hormonsystem, Organsystem und auf unser Immunsystem, Informationen werden in den Zellen abgespeichert und langfristig erinnert. Epigenetische Veränderungen bleiben dabei sehr lange abgespeichert und können sogar transgenerativ weitergegeben werden.
Es gilt:
Hohes Stresserleben => permanent erhöhte Wachsamkeit im Organismus (Stresshormonspiegel steigt) => erhöht Stressempfindlichkeit => gesteigertes Stressniveau => => Stresshormonspiegel steigt erneut => Gene werden aktiviert
Merke:
Früheste Erfahrungen sind körperlich verankerte Gefühlszustände, die uns dauerhaft prägen („Körpergedächtnis“) und jederzeit abgerufen werden können.
Daher sind auch frühkindliche und vorgeburtliche Bindungs- oder Stresserfahrungen und Traumata (bereits ab der Schwangerschaft im Mutterleib) relevant für das spätere Erleben und Leben und keinesfalls abzutun als „man war ja noch so klein, habe das ja gar nicht richtig mitbekommen, noch gar kein Bewusstsein gehabt“ etc.
Wir erfahren im Buch also etwas über folgende Punkte der Hirnforschung:
- aus welchen Teilen sich unser Gehirn zusammensetzt (Stammhirn, Basalganglien, Limbisches System, Großhirnrinde) sowie deren Aufgaben und Funktionsweise
- unterschiedliche Arbeits- und Vernetzungsweise von Limbischem System („Gefühle“) und Großhirnrinde („Denken, Reflektieren und Planen“)
- welche Bedeutung Bindungserfahrungen für die Hirnentwicklung haben und wie Bindung, Hirnentwicklung und unbewusstes bzw. bewusstes Lernen zusammenhängen
- über die Funktionsweise der Spiegelneuronen, wie sie entstehen, welchen Einfluss Bindungserfahrungen auf deren Entwicklung haben und was das für unsere zukünftigen Beziehungen bedeutet
- wo die Möglichkeiten von Veränderung begrenzt sind (auf bewusster Ebene)
- wie das Limbische System, Bindung und Gefühle zusammenhängen
- das Hormonsystem und wie es auf sichere/ unsichere Bindung, Trauma und Angst reagiert
- Wechselwirkungen insbesondere der Hormone Cortisol und Oxytocin auf Lernprozesse des Gehirns und warum Angst bei Trauma auch im Unterbewusstsein so schwer zu löschen ist
- Einfluss von frühkindlichen sowie vorgeburtlichen Bindungserfahrungen und/ oder traumatischen Ereignissen auf epigenetische Prozesse
- Wie das Belohnungssystem in unserem Gehirn und Hormonsystem wirkt
- Wechselwirkungen von Dopamin und Morphium, Noradrenalin und Adrenalin
- Einfluss von aktivem Bewirken vs. passiven Genuss auf die psychische Gesundheit
- Einfluss von chronischem Stress und Stresshormonen auf Gehirn, Immunsystem, Nervensystem und Körperprozesse
- Zusammenhang von frühen Stress- und Bindungserfahrungen und Depression (und warum die gängige Serotoninhypothese nicht haltbar ist)
- Wie ein Kohärenzgefühl entsteht
- wie wir in unserem Unterbewusstsein beeinflusst werden können und uns dies zunutze machen können
- Weshalb früheste Bindungserfahrungen (vor dem 4. Lebensjahr) so entscheidend sind für die Entwicklung und das (erst ab dem 4. Lebensjahr entstehende eigentliche) Bewusstsein dabei keine Rolle spielt und
- Weshalb Bindung und Beziehungen auch für ein erfülltes Leben im Erwachsenenalter der entscheidende Faktor sind.
Mein Fazit zum Buch:
Hans-Otto Thomashoff erläutert in seinem Buch die jüngsten Ergebnisse der Hirnforschung und zeigt das komplexe Zusammenwirken von Psyche, Umwelt, Biologie und Epigenetik auf.
Dazu geht er ausführlich auf die Funktionsweise unseres Gehirns ein, dessen Anpassungsfähigkeit und wie es von unseren Erfahrungen nachhaltig geprägt wird und somit unser gesamtes Körpersystem (Nervensystem, Hormonsystem, Immunsystem) beeinflusst.
Dabei wird einmal mehr deutlich, wie essentiell unsere frühen Bindungserfahrungen für unsere spätere Entwicklung sind.
Denn: wie wir uns von klein auf an entwickeln, wie unser Gehirn sich entwickelt, wer wir sind und wer wir werden, wie wir mit Stress umgehen und unser Körpersystem auf Stress reagiert, entscheidet sich schon sehr früh: nämlich mit unseren Erfahrungen, die wir in Beziehungen machen.
Diese nehmen dann Einfluss auf entwicklungspsychologische, hirnphysiologische, biologische und epigenetische Faktoren in unserem Körper.
Es wundert also nicht, dass auch die entscheidendste Säule für ein glückliches und erfülltes Leben wiederum die der gesunden, wertschöpfenden Beziehungen zu jederzeit in unserem Leben ist.
Wenn wir dann noch die Säulen der Selbstwirksamkeit, des ausgeglichenen Stresshaushalts und des Kohärenzgefühls hinzunehmen können, haben wir eine solide Basis geschaffen, um unser Wohlbefinden nachhaltig zu unterstützen und Einfluss auf unser Gehirn zu nehmen, indem wir uns erneut seine enormen Anpassungsfähigkeit zunutze machen.
Eine klare Leseempfehlung –für alle, die sich mit dem Thema „Hirnforschung, was uns prägt und wie unser Körpersystem davon beeinflusst wird“ näher befassen möchten!
Ich finde solche Bücher mitunter schon interessant und werde es mir mal in der Bibliothek anschauen. 🙂 Danke für diese ausführliche Vorstellung. 🙂
Liebst Elisabeth-Amalie von Im Blick zurück entstehen die Dinge
Sehr gerne:) Es freut mich immer, wenn noch mehr Menschen nach mehr Verständnis von und Verbindung zu uns selbst und damit zu anderen suchen:)