Dumont | Roman | 2020 | 163 Seiten
Gefühlte hundert Mal begegneten mir in den letzten Monaten die Cover der beiden neuesten Bücher von Delphine de Vigan auf Blogs und Social Media und die Lobeshymnen dazu, so dass ich auch neugierig wurde.
Etwas skeptisch war ich allerdings trotzdem, ob es wirklich möglich ist, auf so wenigen Seiten eine wirklich gute Geschichte mit Tiefgang zu entfalten, denn beide Bücher haben tatsächlich jeweils nur knapp über 160 Seiten.
Ja, es ist tatsächlich möglich 🙂
Während mich Loyalitäten (2018) zwar noch nicht ganz überzeugen konnte (mir fehlten hier die Emotionen und die Charaktere blieben auf Distanz) kann ich Dankbarkeiten (2020) uneingeschränkt als Highlight bezeichnen!
Daher – auch wenn es schon so viele Rezensionen gibt – möchte auch ich mich noch mit einer weiteren Rezension in den Reigen einreihen und der Autorin Tribut zollen, denn die Geschichte berührte mich enorm!
„Alt werden heißt verlieren lernen“ S.123
Nachdem bei Michka eine beginnende Aphasie (also der – schleichende – Verlust der Sprache) festgestellt wurde, kommt sie in ein Seniorenheim. Denn Kinder oder andere nahe Verwandte, die sie versorgen könnten, gibt es keine. Auch sonst gibt es wenig soziale Kontakte. Lediglich zwei junge Leute, Marie, um die sich Michka vor vielen Jahren kümmerte, als diese noch klein war und Jerome, der Logopäde, zeigen noch Interesse für das, was sie bewegt.
Mich hat diese Geschichte um Verlust und Wahren der Würde im Alter, das Erhalten der Menschlichkeit, die Sehnsucht nach Nähe und Zuwendung, nach dem Gesehen- und Gehörtwerden, nach echtem Kontakt und echter Hinwendung zutiefst gerührt.
Ich habe mir sehr viele Stellen im Text markiert, weil sie so treffend formuliert waren.
„Ist es wirklich das, was uns alle erwartet, ausnahmslos?“ S. 40
Gedanken an das reduzierte, eingeengte und organisierte Leben in einem Seniorenheim, mit wenig Privatsphäre im eigenen Zimmer auf der einen Seite („die ganze Zeit kommt hier irgendwer rein“ S.69) und gleichzeitig großer Einsamkeit auf der anderen Seite, das Loslassen des alten Lebens mit allen Unabhängigkeiten und dem Wissen, dass es keine Rückkehr mehr dorthin gibt, Vergessen und möglicherweise Vergessen werden, das weiter voranschreitet, all das hat mich noch lange beschäftigt.
Wann sind die besten Jahre, wann sind sie vorbei, gibt es einen Punkt an dem das Leben “zu Ende gelebt“ ist, obwohl man noch am Leben ist? Wann ist dieser Punkt erreicht? Wenn der Verlust einsetzt, im Körper, im Geist, in der Sprache und man nur noch von der Erinnerung zehren kann, bis auch hierfür immer weniger Worte da sind? Oder sind es die fehlenden Verbindungen, der Verlust von echter Nähe?
„(…) und manchmal möchte ich sie fragen: Gibt es noch jemanden, der Sie streichelt? Sie umarmt? (…) dann scheint mir als das Schmerzlichste und Unerträglichste der Gedanke, dass mich niemand mehr berührt. Das zunehmende oder plötzliche Verschwinden von Körperkontakt.“ S.91
Oder ist es dann nicht mehr die Berührung, sondern sind es die Worte, die uns letztendlich noch verbinden können?
„Was bleibt, wenn die Sprache nicht mehr da ist?“ S.101
Gibt es dann noch Verbindung?
Wie fühlt sich das an, wenn die echte Verbindung fehlt? Wenn das Personal zwar höflich und freundlich ist, aber dennoch keiner da ist, mit dem man teilen kann, was im tiefsten Inneren bewegt?
Mit sehr viel Gefühl stellt Delphine de Vigan diese Fragen über das Altwerden und den Lauf des Lebens.
Es geht um die Kraft der Wertschätzung, um Würde und um Menschlichkeit.
Und darum, wie wir mit Worten umgehen, wieviel Macht Worte im Miteinander haben.
Wie sie entzweien können, zutiefst verletzen können.
Aber auch wie sie verbinden können. Wie sie heilsam sein können.
Wie wertvoll es ist, wenn wir uns mit Worten der Wertschätzung nicht zurückhalten, sondern das auch ausdrücken, was wir empfinden. Egal, wie alt wir sind.
Denn vielleicht zieht dieser Stein viel weitere Kreise als wir glauben.
Beim Gegenüber. Und bei uns selbst.
Und wir wissen nie, welche Wendung das Leben einmal nimmt.
„Man glaubt immer, man hätte noch genug Zeit, die Dinge zu sagen, und dann ist es plötzlich zu spät. Man glaubt, es würde reichen, wenn man es zeigt, aber das stimmt nicht, man muss es sagen.“ S. 152
Fazit:
Delphine de Vigan hat mich mit ihrer Geschichte über das Altwerden und der Frage, worauf es am Ende wirklich ankommt sehr berührt!
Auf so wenigen Seite eine Geschichte mit so viel Gefühl zu erschaffen, eine Geschichte, die noch lange nachwirkt – das ist wirklich eine Kunst!
Und das macht „Dankbarkeiten“ zu einem echten Highlight!
Liebe Kathrin,
es tut mir so leid, dass ich mich so lange nicht gemeldet habe. Ich wollte Dir dazu noch extra schreiben.
Das Buch hier hört sich wirklich schön an, auch wenn es für mich eher nichts ist. Ich vermisse meine Oma ja sooooo sehr. Sie ist nun fast 21 Jahre tot, aber es tut immer noch so weh. Ich glaube, ich würde bei dem Buch nur heulen.
Liebe Grüße
Petrissa
Hallo liebe Petrissa!
Ach, wie freue ich mich, mal wieder hier von dir zu lesen! <3 🙂
Ja, das Buch hat schon eine sehr melancholische Seite. Aber es hat eben auch eine leicht
poetisch-philosophische Seite und das mag ich ja, wie du weißt:)
Ja, wenn man einen Menschen sehr ins Herz geschlossen und eine sehr enge Bindung hat, und der dann geht, entsteht eine so große Lücke, die auch mit nichts Gleichem zu füllen ist.
Ich spreche da zum Glück noch nicht aus eigener Erfahrung (zumindest bzgl. Tod), aber allein die Vorstellung davon zerreisst mich. Seltsamerweise, seit ich Mutter bin, scheint die Endlichkeit des Lebens auch für mich noch viel präsenter und näher, als es vorher war. Das Zurücklassen oder Zurückgelassenwerdenkönnen bekommt da nochmal eine ganz andere Dimension, die manchmal richtig schmerzt.
Lg, Kathrin