Kösel Verlag | Sachbuch | 2020 | 272 Seiten
„Wahrnehmung beginnt bei uns selbst. Haben wir gelernt, uns in all unseren Facetten wahrzunehmen, ist das intuitive Verstehen der Menschen um uns herum nur die natürliche Konsequenz. Intuition im Bezug auf andere Menschen ist einfach. Sie ist das Produkt gelebter, intrapersonaler Resonanz“
(„Körperspuren“ Bernhard Voss)
Ich finde es jedesmal aufs Neue spannend, die Funktionsweise unseres Körpers, von Gehirn, Nervensystem und Psyche zu erforschen.
Und ich staune jedesmal wieder darüber, wie fein vernetzt alles in unserem Organismus ist.
Worum geht es?
In unserem Gesundheitssystem liegt der Fokus, der scheinbar alles entscheidende Faktor bei der Beurteilung für Krankheit oder Gesundheit vor allem in einem Punkt: in der medizinischen Messbarkeit.
Beschwerden, die nicht spezifisch genug, nicht messbar genug sind, fallen dann aber aus dem Raster.
Werden Symptome als „psychosomatisch“ bezeichnet, stellt das lediglich ein Synonym für alles dar, was nicht durch Zahlen und Maschinen abgebildet werden kann.
Zahlreiche Beschwerden sind dann entweder idiopathisch (ohne erkennbare Ursache) und man muss sich weitgehend damit abfinden oder sie werden ganz allgemein dem „Stress“ oder einer besonderen Empfindsamkeit der Persönlichkeit zugeschrieben.
Vielleicht werden Symptome bekämpft, mit einer Kopfschmerztablette, einer Salbe oder dem Weglassen von Nahrungsmitteln.
Sie können aber oft nicht dauerhaft oder nur unzureichend eingedämmt werden.
Die eigentliche Ursache wird dabei aber nicht weiter verfolgt.
Natürlich sind Laborwerte und die körperliche Ursachenforschung unerlässlich, jedoch:
vielleicht setzen wir manchmal den Fokus zu sehr auf Maschinen und Zahlen, denn so vernachlässigen wir dabei die Selbstaktivierung, -beteiligung und -wirksamkeit.
Wir verlernen dabei, auf unsere eigenen Körperempfindungen zu hören, unsere Leiden im Kontext unseres Lebensumfeldes anzusehen und sind abhängig von Messwerten.
Bernhard Voss zeigt auf, dass unser Blick auf Krankheiten und Symptome oft zu einseitig ist: häufig stehen im Hintergrund nämlich ebenso psychodynamische Prozesse, die sich auf körperlicher Ebene auswirken: auf Organe, Muskulatur, Faszien- und Bindegewebe.
Wie kann man also ganzheitlich Beschwerden beikommen, insbesondere wenn es sich dabei um hartnäckige, langanhaltende oder häufig wiederkehrende Beschwerden wie Blasenentzündungen, Magenproblemen, Tinnitus oder Schwindel oder den „Klassikern“ wie Nacken-/ Schulterschmerzen, Rücken- und Bandscheibenproblemen oder Migräne handelt?
Ja, Stress spielt eine Rolle. Aber genau deshalb ist es wichtig, zu konkretisieren, genauer hinzuschauen, wie sich das über den Körper ausdrückt.
Denn der Körper reagiert nicht nur irgendwie auf äußere Einflüsse – er trägt die Spuren all unserer Erfahrungen.
Resonanz als Schlüssel
Wir stehen in ständigem Austausch mit unserer stofflichen und sozialen Umwelt. Sämtliche Erfahrungen, alles, was wir erleben, ob psychisch oder körperlich, wirkt sich auf unser Nervensystem aus, welches dann mit weiteren Impulsen reagiert, die an andere Gehirnareale, Organe, Muskeln und Faszien gesendet werden.
Wenn wir z.B. einen engen Raum, ein uraltes Gebäude, eine große Kathedrale betreten, hat das unterschiedliche Wirkungen auf uns. Die Einrichtung, die Farben, ob wir uns unwohl oder wohl oder ehrfürchtig fühlen, wir reagieren mit unserer Körperhaltung, mit Körperempfindungen, mit Gefühlsregungen. Auch Kleidung wirkt auf uns, beeinflusst unsere Körperhaltung, unser Selbstbewusstsein, Menschen haben auf uns eine Wirkung, je nach Auftreten, Aussehen, Verhalten usw. Eine erlebte Enttäuschung wird uns vielleicht bei zukünftigen Entscheidungen beeinflussen. Und wenn wir viel gebückt und gekrümmt sind, sei es durch Arbeit am Computer oder durch Kummer, wird es uns beeinflussen, in unserer Stimmung genauso wie in unserem Körperempfinden.
Wir stehen in ständiger Resonanz zu unserer Umwelt und gleichzeitig auch innerhalb unseres eigenen Körpers.
Daher lohnt es sich, die intra- und interpersonellen Dynamiken in ihrer Gesamtheit anzusehen.
Wie Bernhard Voss beschreibt, sind es stets die folgenden vier Bereiche, die zusammenwirken und angesehen werden sollten:
- die eigene Person (Traumata, Glaubenssätze, Erfahrungen, Belastungen usw)
- die zwischenmenschliche Seite (was gibt es für vergangene oder aktuelle Konflikte, unerfüllte Bedürfnisse)
- die biologisch-genetische/ medizinische sowie körperliche Seite (Messwerte, Unfälle, Krankheiten, Ernährung, Umwelteinflüsse usw.)
- die systemische Seite (familiäres System, Verhaltensmuster, „Verhaltensgesetze“, transgenerative Traumata, usw)
Organe sind Resonanzkörper für Emotionen und Instinkte, reagieren auf zurückgehaltene Impulse, weshalb es irgendwann auch zu Symptomen kommen kann:
Reagieren Organe und das Bindegewebe mit Verspannung auf unterdrückte Impulse, wirkt sich das auch auf benachbarte Bereiche aus, ein so verstärkter Zug oder Druck auf Faszien, Muskeln kann z.B. zu Schmerzen führen, eingeengte Organe können mitunter möglicherweise nicht mehr gut versorgt werden mit Sauerstoff, es kommt verstärkt zu (Auto-) Immunreaktionen usw.
Die Anatomie der Psyche
Bernhard Voss erläutert: Bestimmte Körperregionen korrelieren mit bestimmten Psychodynamiken.
Spannung in den jeweiligen Regionen können Ausdruck nicht integrierter Impulse sein, die eine hohe Erregung im Nervensystem bewirken und sich somit körperlich auswirken.
Was sich im ersten Augenblick nach Küchenpsychologie oder Esoterik anhört, wird plastischer, wenn wir uns vor Augen halten, dass der Ausdruck von Emotionen in der Mimik weltweit gelesen und verstanden werden kann, sich gleicht. Bei Ekel rümpfen wir die Nase und ziehen die Brauen zusammen, bei Freude ziehen sich die Mundwinkel hoch, bei Wut weiten sich die Nasenflügel und der Kiefer spannt sich an usw.
Aber eben nicht nur unser Gesicht reagiert mit bestimmten Gesichtsbereichen, sondern eben auch unser Körper.
Grob gesagt, lassen sich
Trauergefühle im Brustbereich finden,
wutassoziierte Gefühle im Bauchraum,
existentielle Gefühle wie Urvertrauen, Verlustängste, Themen wie Tod/Abschied, Lebensfreude und Sinnhaftigkeit in den Beckenorganen.
Wichtig:
Es geht hierbei keineswegs um Instantlösungen oder eine Vereinfachung sowie Kausalisierung von Symptomen!
Vielmehr geht es um ein Navigationssystem, welches ein hohes Maß an Selbsterforschung verlangt!
Unser Körper und unsere Psyche bilden eine Einheit, stehen in ständiger Wechselwirkung zueinander.
Unser Körper trägt die Spuren all unserer Erfahrungen.
Und die Verbindung ist immer das Nervensystem.
Exkurs: Unser Nervensystem – Verbindung und Ursprung
Besonders unsere ersten sieben Lebensjahre, einschließlich der vorgeburtlichen Zeit im Mutterleib, in denen das Gehirn sich entwickelt und Nervenzellen sich vernetzen und neuronale Bahnen geknüpft werden, spielen eine besondere Rolle.
Hier wird im Wesentlichen unser Nervensystem geformt, auf dem dann unser gesamtes folgendes Leben aufbaut.
D.h. auf dieses Grundgerüst bauen wir nach diesen ersten Jahren nur noch auf, die Basis bleibt aber bestehen.
Das hängt vor allem mit unserem impliziten Gedächtnis im Stammhirn zusammen, dem ältesten Gehirnteil, das sehr reflexartig und schnell reagiert, unbewusste Programme und Prägungen, Konditionierungen abgespeichert hat und abruft.
Studien zeigen, dass wir zu 90-95% aus diesen unbewussten, frühen Prägungen heraus (re)agieren, und nur zu 5-10% bewusst.
Aber natürlich ist auch das Limbische System beteiligt, der Gehirnteil der für unsere Emotionen zuständig ist und eng mit dem Stammhirn verknüpft ist.
Je nachdem, wie verbunden wir mit uns selbst sind, können wir in einzelne Bereiche zu einem Teil eingreifen, was allerdings ein hohes Maß an Bewusstheit, Selbstreflektion und Arbeit fordert.
Unser Nervensystem schwingt immer wieder zwischen Anspannung/ Aktivierung/ Erregung und Ruhephasen/ Entspannung (Sympathikus und Parasympathikus) hin- und her.
Dabei scannt unser Organismus unbewusst und blitzschnell permanent unsere Umgebung nach potentiellen emotionalen oder physischen Belastungssituationen, die ein schnelles Reagieren verlangen könnten, wobei auch besonders unsere frühen impliziten Erfahrungen mit hineinspielen (Neurozeption).
Geraten wir nun in eine Situation, die sich für unser Nervensystem bedrohlich, beängstigend anfühlt oder auf irgendeine Weise Stress im System auslöst, reagiert der Körper mit einer schnellen Aktivierung des Sympathikus: er mobilisiert alle Energie (Hormone werden ausgeschüttet, Blutdruck und Herzfrequenz erhöhen sich, die Leber stellt Zuckerreserven bereit, Blut wird aus Verdauungsorganen abgezogen und in die Muskeln gepumpt, der Muskeltonus erhöht sich usw.) Löst sich die Situation, kann nach einiger Zeit wieder „Ruhe im Organismus“ einkehren und der Parasympathikus übernehmen.
Problematisch wird es dann, wenn der Körper kein Signal erhält, keine Entwarnung, dass sich die Situation gelöst hat, z.B. bei langanhaltendem, chronischem Stress oder auch Traumaerleben.
Dann bleibt diese hohe Energie im Körper gebunden, kann nicht abgeleitet werden: die Spannung und der Druck auf Muskulatur, Organe und Faszien halten an (auch über einen Erschöpfungszustand hinaus).
Vier Basisemotionen, die sich verkörpern
Bernhard Voss verdeutlicht, dass sich diese spannungsgeladenen Erfahrungen, die sich im Nervensystem niederlegen können, im Wesentlichen auf die vier Basisemotionen (mit all ihren Schattierungen) verteilen und somit zeigen als:
Trauer, Wut, Sexualität und Aggression.
Werden diese Emotionen gewürdigt und nicht unterdrückt, wohnt ihnen aber stets eine mobilisierende, lösende Energie zugrunde, denn sie veranlassen uns, etwas zu bewegen, in eine Richtung, die Veränderung und damit Bewältigung von Herausforderung bis hin zu Überleben schafft:
Trauer befähigt uns zu mehr Empathie und sozialem Miteinander,
Wut aktiviert unseren kreativen Prozess etwas zum Positiven zu verändern, Richtungen zu wechseln,
Aggression (nicht destruktiv gemeint, sondern kreativ, im Sinne von eigenverantwortlich an etwas Herantreten) aktiviert unsere Fähigkeit zur Selbsterforschung und Sinngebung und
Sexualität (im Sinne von innewohnender Kraft) aktiviert unsere Beziehungskompetenz, Lebenslust, Genussfähigkeit und unser Körperbewusstsein.
Können wir Emotionen keinen Ausdruck verleihen, sondern unterdrücken Impulse, bleibt die im Nervensystem aufgefahrene Energie aber erhalten:
Sie wirkt sich aus auf Muskeln, die vermehrt anspannen, und somit auf Organe, Bindegewebe und Faszien.
Es kann zu körperlichen Symptomen kommen.
Die Rolle der Angst ist dabei lediglich eine Stellvertretende: sie kompensiert das ursprüngliche Gefühl dahinter, ist ein Ausdruck dafür, dass eine Basisemotion nicht gelebt werden kann, unterdrückt werden muss(te).
Spannungen spiegeln also u.a. eine emotionale Geschichte wider, daher ist das Integrieren dieser Emotionen ein Schlüssel zur Lösung.
Das Buch
Bernhard Voss führt Leser*innen mit seinem Buch „Körperspuren“ in die wunderbar organisierte Welt von Muskeln, Faszien und Bindegewebe in unserem Körper ein und damit ein Stück weit in das Gebiet der biodynamischen Osteopathie.
Er erläutert anschaulich, wie Körper, Geist, Psyche und Umwelt miteinander in ständiger Resonanz stehen, in ständiger gegenseitiger Anregung und wechselseitiger Beziehung und wie wir an körperliche Symptome somit ganzheitlich herantreten können.
Bereits nach einer kurzen Einführung wird deutlich, weshalb es sinnvoll sein kann, die vier Bereiche persönliche Geschichte, familiäres System, medizinisch-körperliche Komponenten sowie anhaltende Beziehungskonflikte in ihrer Gesamtheit zu betrachten, um eine Symptomatik zu verstehen und somit wenn möglich nachhaltig aufzulösen.
Die Entwicklung von Nervensystem und Gehirn in den ersten Lebensjahren spielt dabei eine bedeutende Rolle, denn unsere Prägungen beeinflussen uns, zum größten Teil unbewusst, auch in unserem Erwachsenenleben weiter. Aber auch aktuelle Konflikte sowie transgenerative Themen und Traumata können sich in körperlichen Beschwerden manifestieren.
Der Autor räumt mit psychosomatischen Mythen auf und zeigt Korrelationen (aber keine Instantlösungen oder Kausalisierungen!) der Basisemotionen mit den entsprechenden Symptomen und Organbeschwerden auf, ähnlich wie die Mimik von Emotionen bestimmten Gesichtsbereichen zugeordnet werden kann.
Während der erste Teil des Buchs vor allem der Aufklärung über die Hintergründe und Dynamiken im Körper, Nervensystem, Gehirn und Gefühlsleben dient, werden im zweiten Teil dann gezielt einzelne Funktionskreise und die gängigsten Beschwerden inkl. anatomischer Grundlagen der Körperregionen, in Verbindung mit psychodynamischen Prozessen angesehen, um zu zeigen, wie Erfahrungen und Veränderungen im Nervensystem, in Bindegewebe, Organen, Muskeln, und Faszien zusammenhängen können.
Ergänzt wird dies durch Fallbeispiele aus der Praxis.
Die thematische Gliederung, Tabellen und kleine Zusammenfassungen am Kapitelende machen das Buch sehr übersichtlich.
Besonders schön fand ich die Übungen zum „Selbsterforschen“, womit das Buch zu einem Arbeitsbuch wird und das Gelesene nicht nur Theorie bleibt.
Fazit
Bernhard Voss nimmt uns in seinem Buch „Körperspuren“ mit auf eine Entdeckungsreise in unseren Organismus, bei der er zeigt, wie sich unsere Erfahrungen und psychodynamische Prozesse in körperlichen Beschwerden, in Muskulatur, Bindegewebe und Faszien manifestieren können.
Er wirbt so für ein besseres Verständnis der wechselseitigen Resonanz von Körper, Psyche und Umwelt und eine ganzheitliche Suche nach Wegen, um Beschwerden nachhaltig aufzulösen.
Darüber hinaus ermutigt er mit Hilfe von kleinen Übungen sich ganz praktisch auf den Prozess der Selbsterforschung einzulassen und zu entdecken.
Für alle, die sich selbst etwas besser verstehen oder erforschen mögen!
Videotipps zum Thema:
Joachim Bauer (Neurobiologe, Arzt und Psychotherapeut) über Resonanz in Beziehungen und wie unsere Erfahrungen sich in Biologie verwandeln:
Martin Busch (Körper- und Psychotherapeut) über Resonanz im Körper und das Lösen von Mustern auf Körperebene: Wie fragt man mit den Händen?