Berlin Verlag | Roman | 2020 | 464 Seiten
Hallo an alle, die sich wieder mal hierher verirren:)
Nach einer längeren Blogpause soll es hier endlich wieder weitergehen!
Zwar spannt mich das Leben derzeit sehr ein, so dass ich vielleicht noch nicht ganz regelmässig posten werde,
aber es stehen schon ein paar Beiträge bereit und warten nur auf ihre Veröffentlichung:)
Ganz lange wartet schon „Das Lied der Vermissten“, welches ich bereits Ende letzten Jahres gelesen habe.
Es zählte zu meinen absoluten Buchjahreshighlights!
Und so muss es hier auf jeden Fall noch Erwähnung finden!
Es gibt Bücher, die ziehen einen bereits ab der ersten Seite in den Bann.
So erging es mir schon bei Pierre Jarawans erstem Buch „Am Ende bleiben die Zedern“.
Und so war es auch bei seinem neuen Werk „Ein Lied für die Vermissten“, welches für mich definitiv zu meinen Buchjahreshighlights 2020 gehörte!
„ Es heißt, wir sind die Summe unserer Erinnerungen, unsere Identität sei wie ein Teppich kunstvoll aus diesen Fragmenten gewebt. Doch auf welche Weise formen uns die Dinge, die wir vergessen, verdrängt oder vielleicht nie richtig verstanden haben?“
Die Geschichte handelt von Amin, der im Libanon geboren, in Deutschland aufgewachsen ist und nach dem Bürgerkrieg, der von 1975 bis 1990 dauerte, als Zehnjähriger wieder in den Libanon zurückkehren und damit alles, was sein Leben bisher ausmachte und ihm vertraut war, zurücklassen muss. Hin- und hergerissen zwischen dem Alten, das er oftmals vermisst, und dem Neuen, das manchmal nach Abenteuer duftet und sich gleichzeitig doch oft so fremd anfühlt, versucht er seinen Platz im Leben zu finden, in der Fremde, die seine Heimat sein soll, und sich doch oft so gar nicht danach anfühlt. Denn dazwischen klaffen Welten: im Libanon herrschte Krieg, ein Krieg, den Amin nur vom Hörensagen kennt, während seine Klassenkameraden, seine Mitmenschen hautnah dabei waren.
Der Libanon und auf der Suche nach sich selbst
So beginnt eine Suche nach sich selbst, nach den eigenen Wurzeln. Es ist ein Aufbruch in vielerlei Hinsicht. Da ist Neugierde, aber auch Anspannung. Manchmal eine scheinbar unüberbrückbare Distanz zwischen sich und den anderen, zwischen dem Erleben und dem Sein. Und es bedeutet für Amin zunächst, diese Anspannung in der Ambiguität lauter Gegensätze aushalten zu müssen:
Vom Kind zum Erwachsenen zu werden.
Die gleichen Wurzeln zu haben und sich doch fremd zu fühlen.
Das Gefühl jemanden zu kennen – und doch nicht zu kennen.
So nah beieinander zu leben und sich doch so fern zu sein, sich so fern zu fühlen.
Beirut, eine Stadt der Gegensätze, die schillernde, weltoffene Stadt, in der ein friedliches Miteinander der Religionen möglich ist und Beirut, die Stadt, die im Inneren rastlos und verloren scheint.
Der Libanon – die „Schweiz des Nahen Ostens“ (S.303) und unter der Oberfläche so entwurzelt, so unstet, so fragmentiert.
So viel über die eigene Geschichte zu wissen und dann feststellen, dass da ganz viele Lücken sind.
Das Gefühl sich selbst zu kennen – und doch – kann man sich selbst je ganz kennen und verstehen?
Amins Geschichte ist eine Suche nach den eigenen Wurzeln, nach Sinn und Zugehörigkeit, nach Worten, nach Verstehen, nach Begegnung. Und gleichzeitig ist es nicht nur Amins Geschichte, sondern auch die seiner Großeltern, die seiner Eltern, die seiner Freunde, die Geschichte von Vermissten und die Geschichte des Landes Libanon. Die Geschichte eines Landes, dessen Aufarbeitung der Vergangenheit sich so schwierig gestaltet und das daher noch immer rast- und ruhelos bleibt.
„Es gab Phasen in ihrem Leben, die sie wie eine Nachtwächterin hütete. Gassen und Pfade ihrer Erinnerung, von keinem Licht je beleuchtet.“
Aber es ist eben auch die Geschichte eines Aufbruchs, einer Hoffnung. Es ist eine Geschichte, die von Freundschaft erzählt, von Beziehungen, von Entscheidungen und deren Folgen. Eine Geschichte, die sich aus Erinnerungen, Sehnsucht und schmerzlichem Vermissen, von Loslassen und hoffenden Neuanfängen zusammensetzt. Eine Geschichte die das Schweigen brechen mag, das dieses Land – den Libanon – so teilt. Ein Schweigen, das im Grunde genommen in jeder Art von Beziehung einen unüberbrückbaren Graben entstehen lässt, wenn es zwischen dem Verarbeiten und dem Miteinander steht.
Wahre Erzählkunst – ein Gesamtkunstwerk!
„Das Verlorene erfahrbar machen, hatte Saber Mounir gesagt, sei einer der vielen Zauber des Erzählens.“
Es liegt etwas Faszinierendes in der Art, wie Pierre Jarawan schreibt: wunderbar poetisch, überaus lebendig und farbig, ernst und sehr sensibel. Zwischen den Seiten entfalten sich so viele Geschichten in einer einzigen Geschichte. Aus fehlenden Worten, Sprachlosigkeit und der schmerzlichen Gewissheit, nicht mit Sprache allein fassen zu können, was die Seele des Landes und seiner Menschen annähernd beschreiben könnte, zeichnet Pierre Jarawan farbenprächtige Bilder, webt einen kunstvollen Teppich aus Worten, Erzählungen und Erinnerungen. Das Sprachrohr ist die Kunst: Malerei, Fotografie, Theater, Literatur und Musik werden zu einer Leinwand als Gefäß, in dem sich alles sammelt.
Es sind die zahlreichen Details von großen und kleinen Begegnungen und Momentaufnahmen, die die Geschichte so besonders machen, so lebendig machen, zu einem großen Ganzen werden lassen. Zu einem Gesamtkunstwerk machen.
Es braucht Muße und Stille und Achtsamkeit, dann entfaltet sich beim Lesen eine Tiefe, eine ungeahnte Dimension. So viele Metaphern. So viel Gefühl. So viel Leben und so viel Seele. Und doch liest es sich ganz leicht, überhaupt nicht pathetisch.
Ein Lied für die Vermissten vermittelt (wie sein Vorgänger „Am Ende bleiben die Zedern“) einen ganz besonderen Blick auf ein Land, das zerrissen und schwer mit Worten zu greifen ist, das weltoffen ist, und doch sich suchend, sich verlierend im Schweigen. Doch vielleicht ist da doch auch noch eine Chance, eine Aussicht auf Hoffnung. Die Hoffnung, im Brechen des Schweigens schließlich Frieden zu finden.
„Sie kennt den Wunsch nach Vergessen. Sie kennt das Gefühl der Sprachlosigkeit, der Ohnmacht. Merkwürdig, denkt sie, man braucht die Sprache, um den Krieg zu erklären. Man braucht die Sprache jedoch auch, um mit dem, was man angerichtet und erlitten hat, irgendwie weiterleben zu können.“
Fazit
Pierre Jarawan hat mich mit „Ein Lied für die Vermissten“ einmal mehr von der ersten Seite an in seinen Bann gezogen.
Sein Schreibstil ist wahre Erzählkunst, so bildgewaltig, lebendig und vielschichtig, so einfühlsam! Und er vermittelt wieder einmal mehr und auf ganz besondere Weise einen Einblick in den Libanon, verknüpft dabei Lebensgeschichten und Landesgeschichte zu einem wunderschönen Teppich aus Worten, Sprache und Bildern!
Mein Jahreshighlight!
Und für alle Fans von Khaled Hosseini!