mosaik Verlag | Sachbuch | 2020 | 192 Seiten
Spielen und Bewegung gehören wesentlich zur gesunden Entwicklung eines Kindes dazu. Kinder tun dies ganz natürlich von sich aus und entwickeln dabei viel Fantasie und Kreativität.
Spielen lässt uns ganz im Hier und Jetzt sein und tut auch Erwachsenen gut!
Spielen und Lernen
Spielen und Lernen werden oftmals als zwei unterschiedliche, voneinander unabhängige Bereiche in der Entwicklung eines Kindes angesehen. Ersteres wird dabei schon ab einem recht frühen Lebensalter als bloßer Zeitvertreib gesehen, während letzteres oft sehr eindimensional und einseitig betrachtet wird: nämlich gemeinhin als Vorbereitung im Hinblick auf das Berufsleben. Gefördert werden vor allem kognitive Fähigkeiten, evtl. noch sportliche oder musische. Doch der Fokus bleibt in den meisten Fällen leistungs- und wettbewerbsorientiert.
Sozial-emotionale Kompetenzen werden beim zielgerichteten Lernen wenig angesprochen und selten in den Vordergrund gerückt. Es ist so schade, dass diese Werte hinter den anderen zurückstehen!
Hier fand ich die Parallelen zum Buch „Lebe wild, verrückt und wunderbar“ sehr spannend. Obwohl ein ganz anderes Thema – lebendiges Frau sein im Alltag – zeigt es einmal mehr, dass wir als Gesellschaft und als Einzelne oft stark im Außenfokus leben und geprägt sind von Leistungs-, Wachstums- und Konkurrenzdenken, während Werte wie Bindung, Verbindung – mit sich, mit anderen, mit der Natur – Empathie, Kreativität, Intuition wenig Raum erhalten.
Dabei sollte es uns doch eigentlich ein Anliegen sein, unsere Kinder nicht nur fürs Berufsleben fit zu machen, sondern ihnen Raum zu geben, generelle Lebenskompetenzen zu erwerben, wie z.B. Kompetenzen im Umgang mit Emotionen, mit Stress, mit Frustration, mit Konflikten, die Entwicklung von Empathie, Selbstvertrauen, Selbstfürsorgefähigkeiten und Teamfähigkeit.
Spielen und Lernen sind so eng miteinander verknüpft, dass sie wie zwei Seiten einer Medaille, kaum getrennt voneinander betrachtet werden können. Und hirnphysiologisch macht das auch Sinn: denn je mehr Emotionen wir beim Lernen von etwas Neuem, bei neuen Erfahrungen haben, desto besser und schneller und nachhaltiger entstehen Vernetzungen im Gehirn.
„Die Erfahrung bei etwas Neuem erfolgreich zu sein, setzt Endorphine im Belohnungssystem des kindlichen Gehirns frei, was ein Gefühl von Glück und Stolz auslöst“
Kinder entdecken mit Spielen, und insbesondere mit dem freien Spiel, kognitiv, motorisch, sozial und emotional die Welt und sich selbst – und sind dabei emotional beteiligt. Sind das also nicht beste Voraussetzungen, um nachhaltig, ganzheitlich und umfassend fürs Leben zu lernen? Die Antwort lautet ganz klar ja!
„Mama, ich will spielen!“ – Was wir vom Buch lernen können
In ihrem neuesten Buch vertieft nun die Autorin und Familientherapeutin Iben Dissing Sandahl nochmal den ersten Grundbaustein zur Resilienzentwicklung bei Kindern aus ihrem Buch „Warum dänische Kinder glücklicher und ausgeglichener sind“ : Gutes (freies) Spiel.
Wir Menschen haben von klein auf an ein inneres Bedürfnis uns auszudrücken und weiter zu entwickeln. Durch das freie Spielen können Kinder ganz natürlich ausprobieren, forschen, etwas erschaffen, sich selbstwirksam erleben, Lösungen erarbeiten und Selbstvertrauen aufbauen, sie bekommen ein besseres Gespür für sich selbst und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, testen eigene Grenzen aus, und entwickeln Kooperationsfähigkeit, Empathie, Kreativität und Resilienz. Mit Spielen lernen Kinder aber nicht nur sich selbst besser kennen, sondern eben auch die Welt zu entdecken, Informationen über sie zu sammeln und zu nutzen. So erläutert die Autorin ausführlich wie und warum das freie Spiel die Entwicklung so ganzheitlich fördert und warum dabei nicht die Menge an Spielzeug entscheidend ist.
Freiraum und elterliche emotionale Präsenz
Tatsächlich braucht es weniger Spielzeugangebote, als dass in erster Linie die Grundfaktoren Kohärenz, Sinnerleben, Sicherheit und stabile Bindungen gegeben sind. Und es braucht Freiraum: Freiraum zum Kreativwerden mit möglichst flexiblen, vielseitig einsetzbaren Materialien und emotionalen Freiraum, so dass das Kind ohne Druck und ohne in eine gewünschte Richtung gelenkt zu werden, die Freude am Lernen beibehalten kann und nicht ängstlich wird. Zudem ist es besonders wichtig, die Entwicklungszonen in der das Kind sich befindet zu beachten (und nicht unsere erwartete oder gewünschte Zone!). Und das erkennt man am aktiven Versuch, die Initiative zu ergreifen oder sich mit Vorschlägen und Ideen einzubringen. Dann kann das Kind sein Potential entfalten und seine individuellen Talente entdecken.
Individualität und Potentialentfaltung
Die Autorin betont immer wieder, wie wichtig es ist, jedes Kind in seiner Einzigartigkeit zu sehen, mit seinen individuellen Interessen, Bedürfnissen und Stärken und seinem Entwicklungsstand, seiner Lernkurve und -geschwindigkeit.
Die Aufgabe der Eltern ist es also, das Kind feinfühlig zu begleiten, Zeit zu geben und einen Rahmen zu schaffen.
Iben erklärt wie es gelingt, eine Brücke zu bauen, indem wir das Selbstwertgefühl stärken (und nicht überfordern) und gleichzeitig ermutigen zu neuen Herausforderungen, ohne dass das Kind sich zu weit von seiner Entwicklungsstufe entfernen muss. Vertrauen spielt hier ebenso eine große Rolle wie Zuhören und Feinfühligkeit: Vertrauen in das Kind haben und dieses Vertrauen auch zeigen.
Gut aufgearbeitet hat die Familientherapeutin auch das Thema der Geschlechterstereotypisierung. Während es hilfreich ist, zu wissen, dass es biologisch zwar Unterschiede in der Hirnentwicklung gibt (unterschiedliche Zeitfenster für den Erwerb unterschiedlicher Kompetenzen), gibt es keinen Anlass im Spielzeugmaterial eine Geschlechterunterscheidung oder gar Stigmatisierung zu unterstützen, sondern allen die gleichen Chancen zu bieten, das eigene Potential zu entfalten.
Abschließend zeigt Sandahl noch ein paar interessante und nachahmenswerte Beispiele dafür, wie die Dänen das (freie) Spielen in gesellschaftlichen Institutionen, wie z.B. Schule mit integrieren, oder in kommunalen Initiativen aufgreifen.
Zusammenfassung:
Spielen ist die natürlichste Form des Lernens.
Kinder lernen dadurch die Welt und sich selbst kennen.
Beim freien Spiel geht es also für Eltern darum, einen Raum zu schaffen.
Einen Raum für die Entwicklung genereller Lebenskompetenzen auf allen Ebenen: auf kognitiver, emotionaler, sozialer und motorischer Ebene.
Einen Raum für individuelle Entfaltung, einen Raum dafür, sie selbst zu sein – unabhängig von Geschlecht, Gesellschaftsnormen, Sozialisation, Bewertungen, Vergleichen und Erwartungen.
Der Spaß darf dabei stets im Vordergrund stehen, um die natürliche Entdeckerfreude zu erhalten, denn so wird auch die Entwicklung auf hirnphysiologischer Ebene unterstützt, vor allem aber entstehen dadurch Sinn und Verbindung zu sich selbst, zu anderen und zum Leben.
Und dafür wollen wir unsere Kinder ja kompetent machen!
So enthält das Buch auch weniger Spielideen, als vielmehr Anregungen für den Rahmen, sowohl für drinnen als auch draußen, bei dem die wichtigsten Bausteine eine stabile Bindung und die elterliche emotionale, feinfühlige Präsenz sind.
„Mama, ich will spielen!“ ist ein Plädoyer fürs Spielen – als Kinder, aber auch als Erwachsene, immer wieder, denn beim Spielen gibt es keine (Alters-) Grenzen!
Podcastliebe
Ich möchte euch noch ein Interview ans Herz legen, das Lernen ganz neu denken lässt und welches ich als zutiefst bereichernd und beeindruckend, weil so unglaublich reflektiert, erlebte:
André Stern im Podcast von Christian Bischoff über schulfreies Aufwachsen, Spielen und Lernen:
Buchtipp
Weiterführend zum Thema Spielen und Lernen kann ich auch noch empfehlen:
Montessori für Eltern –Simone Davies
(Sachbuch, Beltz Verlag, 2020, 303 Seiten)