mosaik Verlag | Sachbuch | 2017 | 222 Seiten
Heute möchte ich euch ein Buch vorstellen, dass mich richtig, richtig, richtig begeistert hat!
Dänemark – ein Land, das seit 1973 fast jedes Jahr von der OECD zu dem Land mit den glücklichsten Menschen der Welt gewählt wurde. Das sind fast 50 Jahre! Doch woran mag das wohl liegen? An den hohen Steuern wohl nicht und das sonnenreichste Land ist Dänemark nun auch nicht gerade. Die Antwort, man ahnt es ja sicherlich schon, liegt in der Erziehungsphilosophie.
Wir leben in einer sehr wettbewerbsorientierten Kultur, leben als Gesellschaft nach einem Maßstab, der durch Konkurrenz, Leistung, Erfolg und Beurteilung bestimmt ist.
Doch glücklich macht dies nicht. Im Gegenteil.
Jessica Joelle Alexander beobachtete, als eingewanderte Amerikanerin, bei ihrem dänischen Mann und ihren dänischen Freundinnen eine andere, ihr zunächst ganz fremde Umgangsweise mit Kindern. Mit ganz überraschenden Resultaten. Zusammen mit ihrer Autorenkollegin Iben Dissing Sandahl versuchte sie das Geheimnis zu verstehen, welches die Dänen umgibt.
In ihrem Buch teilen die Beiden nun die Erkenntnisse ihrer Entdeckungsreise von mehr als 13 Jahren.
Die kulturspezifische Brille abnehmen
Was bedeutet es denn eigentlich, amerikanische oder deutsche oder dänische Eltern zu sein? Macht das einen Unterschied?
Wenn man sich näher damit befasst, wird man bemerken, dass es kulturelle Unterschiede im Erziehungsverhalten von Land zu Land gibt, z.B. die Schlafenszeit oder was „richtig“ scheint usw. Diese Maßstäbe sind oft so tief verankert in einer Gesellschaft, dass sie dabei selten hinterfragt werden und als allgemeingültig angesehen werden.
Daher lohnt es sich hin und wieder die kulturspezifische Brille einmal abzunehmen und sich neu zu orientieren!
Die Antwort auf die Frage, warum die Dänen im Wesentlichen glücklicher sind, liegt in der Erziehungs- und Beziehungsphilosophie, die so eng mit dem Alltagsleben und der Kultur verbunden ist, dass sie ganz selbstverständlich in die Beziehungsgestaltung mit einfließt, in die Art des Umgangs mit Kindern, aus denen dann resiliente, emotional stabile, glückliche Erwachsene werden.
„Glückliche Kinder wachsen zu glücklichen Erwachsenen heran, die glückliche Kinder großziehen, und so weiter.“ (Seite 18)
Erziehung und Beziehung neu denken
Der Fokus in der Begleitung eines Kindes liegt hierbei auf Spiel, Empathie, Sozialkompetenz statt auf Leistung und akademischen Fähigkeiten. Das Hauptaugenmerk liegt also nicht auf Bildung und Sport bzw. individuell fördernden Trainingseinheiten, sondern auf Sozialisation, Autonomie, Zusammenhalt, Selbstwertgefühl und Demokratie. Es geht um den Umgang mit Stress, Freundschaften und sich selbst, um Authentizität und Empathie als Schlüssel zum Verständnis von Emotionen – der eigenen und der der Mitmenschen. Kinder entwickeln eine generelle Lebenskompetenz, die sich auf alle Aspekte des Lebens beziehen, nicht nur auf berufliche. Bewusster Einsatz von Sprache und Perspektivwechselfähigkeiten sind hierbei wichtige Elemente.
GLUECK – 6 Grundprinzipien für eine stabile Entwicklung
Im Buch stellen die Autorinnen anhand des Akronyms GLUECK in sechs Kapiteln die sechs Prinzipien der dänischen Erziehung vor:
G – Gutes Spiel:
unstrukturiertes Spiel als Lernfeld, ohne spezielle Lernprogramme, für die Entwicklung von Selbstwertgefühl, Selbstwirksamkeitserleben und Selbstständigkeit
L – Lernorientierung:
- innere Zielvorgaben/ intrinsische Bedürfnisse (aus sich selbst heraus zufriedenstellend) statt externer Ziele und Motivation durch Vergleiche (wie Statussymbole und Anerkennung/ Lob)
- Weiterentwicklung und Entdeckung der eigenen Möglichkeiten und Potentiale durch prozessorientierte Rückmeldungen („Was hast du dir dabei überlegt?, du hast viel Zeit investiert, dir Mühe gegeben“) statt Begrenzung durch Fixiertheit und ergebnisorientiertes Lob („du bist intelligent, das hast du toll gemacht“)
> Das Selbstbild ist dann nicht abhängig vom Ergebnis, sondern vom Prozess und Selbstvertrauen sowie Freude/Motivation bleiben erhalten – auch in schwierigen Situationen!
U – Umdenken:
- Sprache: Achtsame, unterstützende Sprache statt Etiketten durch Sprache, Sprache als Indikator für die Erschaffung eines positiven Selbstbilds, Menschenbilds, Weltbilds
- Perspektivwechsel/ Reframing: Stärken stärken statt Schwächen fokussieren
- Gezielte Dialoge mit dem Kind: Re-Authoring, Re-Scripting: neue Lösungsansätze erarbeiten in Konfliktsituationen und somit Selbstwirksamkeit und Resilienz stärken
E – Empathie:
- Anteilnahme am Glück UND der Not anderer,
- Selbstempathie und Selbstfürsorge
Dazu gehört stets: negative Gefühle auch anerkennen statt ausblenden oder kleinreden sowie eine bewusste Denk- und Sprechweise als wichtiger Schlüssel
C – Coolbleiben:
- Beziehungs- und werteorientierte Begleitung (autoritativ) in Gleichwürdigkeit, ohne Bestrafung statt autoritärer Erziehung oder laissez-faire-Stil
- Demokratische Entscheidungen statt Machtkämpfe und Machtgefälle
K – kuscheliges Zusammensein (hygge):
Team- und Kooperationsgeist statt Individualismus in Familie, Schule, Beruf.
Achtsames und bewusstes Gestalten von Beziehungen und sozialen Verbindungen
Mein Fazit zum Buch:
Das Buch liest sich leicht und flüssig.
Wer Jesper Juul kennt, ein Pädagoge und Therapeut, der (wie könnte es auch anders sein, ein Däne), seit den 50er Jahren auf diesem Gebiet geforscht und bis zu seinem Tod im letzten Jahr (2019) zahlreiche Bücher darüber verfasst hat und im Grunde genommen den Weg eröffnet hat hin zu einem liebevollen, gleichwürdigen Umgang mit Kindern, wird hier eine schöne Zusammenfassung der Grundprinzipien beziehungsorientierter Elternschaft wiederfinden.
Und genauso, wie ich von Juuls Ansichten und Weitblick jedes Mal wieder aufs Neue begeistert bin, fand ich auch dieses Buch super, sprachlich ist es vielleicht ein bisschen eingängiger, der Aufbau und die Arbeit mit dem Akronym machen das Gelesene leicht zugänglich.
Gerade das Kapitel über Lernorientierung fand ich nochmals augenöffnend, was unsere leistungsorientierte Gesellschaft und auch das Schulwesen betreffen.
Besonders gut gefallen haben mir die Ausführungen zum Thema „Loben“.
Dass Loben nicht immer und unbedingt förderlich ist, sondern auch hinderlich sein kann – es kommt auf das Wie an, auf die Worte, auf den Kontext – das wurde schon an vielen Stellen diskutiert. Aber noch an keiner Stelle habe ich es so klar und deutlich formuliert gesehen: sehr einleuchtend wird mit einfachen Worten der Unterschied zwischen prozessorientiertem und ergebnisorientiertem Lob erklärt und welche Folgen dies jeweils für die Entwicklung von Resilienz, Frustrationstoleranz, Potentialentfaltung und Selbstwirksamkeitserleben bzw. Selbstvertrauen hat!
Die Autorinnen haben mir zudem noch einmal mehr Beispiele für mögliche Dialoge (gerade beim Re-Scripting, also dem Neu-Denken/ Neu-Lösen von Emotionen und Konflikten) vor Augen gehalten, denn wie schnell verfällt man, wenn es drauf ankommt in alte gelernte und/oder gesellschaftstypische Redeweisen.
Ein Buch, das unsere Gesellschaft braucht!
Ein Buch, das die wichtigsten Prinzipien für eine Begleitung von Kindern zusammenfasst, damit sie zu resilienten, emotional stabilen und glücklichen Menschen heranwachsen.
Ein Buch, das mit Hilfe von vielen Dialogbeispielen wieder einmal mehr deutlich macht, welchen Unterschied eine gleichwürdige Beziehung zwischen Eltern und Kind macht, welchen Unterschied die richtigen Worte machen.
Ein Buch das Achtsamkeit und eine bewusste Auseinandersetzung erfordert.
Vor allem in der Umsetzung nach dem Lesen.
Um es noch einmal mit Jesper Juuls Worten zu sagen:
„Muss man denn wirklich so viel darüber nachdenken, was man zu einem kleinen Kind sagt?(…) Es wird den Leser nicht überraschen, dass meine Antwort „Ja“ lautet.“
(aus: Jesper Juul „Dein kompetentes Kind“)
Und das sollten unsere Kinder uns doch wert sein!
P.S. Mein Buchtipp:
Wie ihr schon merkt, ist neben obigem Buch mein absoluter Buchfavorit für alle Eltern Jesper Juuls „Dein kompetentes Kind“.
Unbedingt lesen!