Gräfe und Unzer Verlag | Sachbuch | 2018 | 240 Seiten
Stefanie Stahl hat bereits in ihrem Bestseller „Das Kind in dir muss Heimat finden“ sehr praxisnah erklärt, wie unsere Kindheit uns prägt, wie Glaubenssätze entstehen, die dann auch im späteren Leben Einfluss auf unser Miteinander haben und wie wir uns damit bewusst auseinandersetzen können, um überholte Glaubenssätze aufzulösen.
Und sie hat damit einen sehr großen Beitrag zum besseren Verständnis unserer eigenen Denk- und Verhaltensmuster und unserer Beziehungen geleistet.
Da ist es gar nicht weit hergeholt, die ganze Thematik auch einmal im Hinblick auf Elternschaft anzusehen, um transgenerative Übertragungsphänomenen ganz bewusst entgegenzuwirken. Schließlich handelt es sich auch bei Eltern und Kind um eine Beziehung, in der Emotionen und Verhaltensmuster getriggert werden können, Glaubenssätze die eigene Haltung und/ oder Empfindung gegenüber dem Kind, das Erleben des Miteinander beeinflussen können.
Daher handelt es sich bei diesem Werk, das Stefanie Stahl zusammen mit Julia Tomuschat geschrieben hat, nicht um einen „Erziehungsratgeber“ sondern vielmehr um einen „Beziehungsratgeber“, in dem es auch wieder darum geht, sich selbst zu reflektieren und in erster Linie die eigenen (automatisierten) Denk- und Verhaltensweisen zu überdenken und sich der eigenen Gefühle und Motive bewusster zu werden.
Das Buch ist ein eigenständiges Buch und kann ohne jegliches Vorwissen gelesen werden.
Worum geht es?
„Letztlich geht es in einer guten Eltern-Kind-Beziehung darum, WENIGER zu TUN, dafür aber BEWUSSTER zu SEIN“ (S.10)
Ob Kinder zu gesunden, selbstständigen Erwachsenen aufwachsen, hängt nämlich ganz eng zusammen mit der Fähigkeit zum Emotionsmanagement der Eltern. Und damit verbunden, der Art und Weise des elterlichen Umgangs in der frühesten Kindheit mit Gefühlen, den eigenen und denen des Kindes, was sich sowohl in der Kommunikation als auch dem Verhalten dem Kind gegenüber widerspiegelt.
Die Basis dafür, ob dieser Umgang mit Emotionen eher günstig oder ungünstig bleibt, bildet aber in jedem Fall das Einfühlungsvermögen – für sich selbst als auch für das Kind. Dieses ist der entscheidende Drehpunkt. Denn das entscheidet über unsere späteren Glaubenssätze in den Bereichen Autonomie, Bindung und Selbstwert, welche die drei psychologischen Grundbedürfnisse sind.
Je nachdem wie diese Bedürfnisse also durch Einfühlungsvermögen, Kommunikation und Verhalten befriedigt werden (oder nicht), entwickeln sich daraus unsere späteren eigenen Fähigkeiten: die Fähigkeiten zum Emotionsmanagement, gesunde Bindungen eingehen zu können, zur Resilienz (Widerstandskraft bei Krisen), einer stabilen Selbstwirksamkeitserwartung (Vertrauen in die eigene Kompetenz) und zur emotionalen, physischen und psychischen Selbstfürsorge.
Das Buch
Die erste Hälfte: Theoretisches Wissen und Bewusstwerdung
Die beiden Autorinnen geben auch dem unerfahrenen Leser eine gut verständliche Einführung in die Thematik.
Sie stellen die drei psychologischen Grundbedürfnisse (Autonomie, Bindung und Selbstwert) vor und erläutern, was es dafür braucht, damit diese Säulen sich zu gleichen Teilen entwickeln können und in der Balance bleiben.
Anschließend wird das Thema Glaubenssätze nochmals ausführlich aufgegriffen. Dabei wird deutlich, dass es für eine gesunde Begleitung der Kinder unerlässlich ist, die eigenen Muster aufzudecken und immer wieder einen Perspektivenwechsel vorzunehmen. Daher ermutigen die Autorinnen dazu, einen Blick in die eigene Kindheit zurückzuwerfen.
Wie in der Begegnung mit anderen Erwachsenen, kann es nämlich auch passieren, dass unsere Kinder uns triggern und alte, automatisierte Muster unserer Gefühlswelt abgerufen werden, die uns dann dazu verleiten, ungünstig zu reagieren. Das kann entgegen unserer Vorsätze passieren – wie schnell werden negative Glaubenssätze aus der Kindheit getriggert und ein altes Verhaltensmuster in einer emotionalen Situation abgerufen, wenn wir nicht achtsam genug bleiben – oder auch ganz nach unserer Überzeugung, die sich aber dann auf den zweiten Blick als gar nicht so günstig entpuppt. Daher gilt es zuallererst, die Brille unserer eigenen Kindheitsprägungen abzusetzen und aus der wertfreien Beobachterperspektive heraus zu reflektieren, was wir im Kontakt mit unseren Kindern fühlen, denken und tun, um innerhalb einer Situation aus der Identifikation mit dem eigenen inneren Kind (der eigenen Kindheit) auszusteigen.
Der Leitspruch „Ertappe dich selbst und schalte um“ (S.109) beschreibt dieses Vorgehen sehr gut.
Im Anschluss daran erklären die Autorinnen warum es so wichtig ist, wieder einen guten Zugang zu den eigenen Gefühlen zu bekommen. Denn dies ist die Voraussetzung für Mitgefühl und damit eine bestmögliche Begleitung unserer Kinder. Denn wenn ich keinen guten Zugang zu meiner eigenen Angst, Trauer oder Hilflosigkeit habe, wird es schwierig mich in mein Kind hineinzuversetzen.
Viele Eltern haben Prägungen, die entweder zugunsten der Bindung oder der Autonomie ausfallen und somit unterschiedliche Konfliktpotentiale in der Beziehung zum Kind aufwerfen können, weshalb die Autorinnen sowohl Situationen für angepasste als auch autonome Eltern beleuchten.
Die zweite Hälfte: Praktische Hilfen für den Alltag
Die zweite Hälfte des Buchs befasst sich ganz konkret mit Situationen aus dem Alltag mit Kindern.
Zwei wichtige Komponenten bilden hierbei den Rahmen:
Die Selbstfürsorge, die Hand in Hand geht mit der Fürsorge für die Kinder.
Das Einfühlungsvermögen, denn Kinder lernen durch das Einfühlungsvermögen ihrer Eltern, ihre Gefühle zu spüren, zu benennen und zu regulieren. (S. 135)
Aus diesem Grund ist es so wichtig, dass Eltern zunächst einmal selbst in der Lage sind, die eigenen Gefühle zu differenzieren, zu benennen und das Bedürfnis dahinter zu erkennen, um auch beim Kind einerseits feine, unausgesprochene Signale wahrnehmen zu können und andererseits den Prozess des Lernens vom Umgang mit Emotionen entsprechend begleiten zu können, nämlich: erkennen, differenzieren, benennen und regulieren.
Das absichtslose Zuhören wird hier als wichtigstes Element für Einfühlungsvermögen genannt, also das Zuhören, ohne die Absicht gleich zu reagieren oder etwas zu erwidern. Es geht also immer darum, eine Brücke zu bauen zum Kind: durch Wahrnehmen, Dasein, Spiegeln, Aushalten. Das erfordert die Bereitschaft, die eigenen unangenehmen Gefühle zu spüren, sich an den Fähigkeiten und Bedürfnissen vom Kind zu orientieren und nicht am eigenen Empfinden, achtsam zu sein für eigene Erwartungen und Prägungen, um diese identifizieren und abgrenzen zu können, damit es weder zu einer Verschmelzung, noch zu Machtkämpfen kommen muss, welche die Entwicklung des Kindes behindern können.
Und letztendlich führen uns die Autorinnen an den Punkt, an dem es auch langsam um das Loslassen geht, und wie das gelingt, so dass unsere Kinder ihre eigenen Wege gehen können und wir trotzdem gut verbunden bleiben.
Im gesamten Buch begegnen uns immer wieder Reflektionsinseln, die uns ermutigen, uns mit unserer eigenen Gefühlswelt auseinanderzusetzen.
Fazit
Als Kind haben wir drei grundlegende psychologische Bedürfnisse: das Bedürfnis nach Bindung, nach Autonomie und nach Selbstwert.
Werden diese geachtet, wird es uns möglich sein, uns gut zu entwickeln und zu selbstständigen Erwachsenen zu werden, die beziehungsfähig und im Umgang mit sich selbst, mit anderen und mit Emotionen selbstwirksam bleiben.
Verletzungen allerdings, egal ob groß oder klein, können uns tief prägen. Da alle Menschen Verletzungen erlitten haben, tragen auch alle Menschen einige ungünstige Prägungen in sich, die es uns dann, wenn wir selbst Eltern werden, erschweren, unsere eigenen Kinder wiederum angemessen zu begleiten.
Stefanie Stahl und Julia Tomuschat geben in ihrem „Beziehungsbuch“ Hilfen an die Hand, diese Verletzungen bei uns selbst zu identifizieren, zu reflektieren und aufzulösen, um unseren Kindern mit Empathie als Grundlage so zu begegnen, dass wir ihnen Wärme und Halt geben und gleichzeitig den Raum zur freien Entfaltung lassen können.
Wie bei einem Mobile: dass wir sie in ihrer Individualität stützen können und doch stets verbunden bleiben.
Das Buch ist kein Erziehungsratgeber und nicht geeignet, wenn man auf der Suche nach einer Anleitung zum Vorgehen nach autoritärem Stil ist.
Das Buch ist für alle, die sich selbst reflektieren wollen, mit sich und an sich arbeiten wollen, bei denen der Wunsch nach einer empathischen Beziehung zu den eigenen Kindern mit gegenseitiger Verbundenheit und Wertschätzung an erster Stelle steht.
Podcastliebe
Die beiden Autorinnen waren beim Podcast einfach ganz leben
der Verlagsgruppe Droemer Knaur und erzählten über dieses Buch!
https://www.einfachganzleben.
Ein hörenswertes Interview!
Schönes Buch – auch für soziale Berufe finde ich solche Ratgeber immer ganz wichtig! Lese da gern mal drin. 🙂
Hallo Elisabeth-Amalie! Ja, es ist eigentlich in allen Beziehungen wichtig, sich selbst zu reflektieren und die eigenen unbewussten Muster zu erkennen und aufzulösen. Arbeitest du in einem sozialen Beruf?