dtv Verlag | Belletristik | 2020 (24. April) | 240 Seiten
Ich bin ja ein großer Fan von Podcasts. Und ich liebe den Talk über Bücher von Andi und Andrea im Hugendubel-Podcast Seite an Seite.
Nachdem ich dort das erste Mal von Adeline Dieudonnés Roman „Das wirkliche Leben“ hörte, wollte ich dieses Buch auch unbedingt lesen.
Ihr Debutroman stand monatelang auf der französischen Bestsellerliste, wurde bereits mit 14 Literaturpreisen ausgezeichnet und bekommt auch hierzulande, so kurz nach dem Erscheinen, immer mehr Aufmerksamkeit.
Eine einzige rasante Achterbahnfahrt …
Und wow, dieses Buch ist wirklich eine einzige rasante Achterbahnfahrt gewesen.
Ich glaube, ich habe noch selten eine Geschichte mit einem solchen Tempo gelesen! Nicht, weil ich sie so schnell gelesen ist, sondern weil sie so mitreißt.
Sie entwickelt nämlich einen solchen Sog, nimmt immer schneller an Fahrt auf, dass man die ganze Zeit beinah den Atem anhält und wie in einem Rausch geradewegs aufs Ziel hinbrettert um dann endlich tief Luft zu holen! Man rauscht nur so durch die Seiten. Von Nervenkitzel zu Nervenkitzel. Da hat man die eine Situation noch nicht verwunden, eh man sich’s versieht, kommt schon die nächste Gelegenheit, bei der sich die Nackenhärchen aufstellen.
Ich habe bis in die frühen Morgenstunden gelesen, weil ich nicht aufhören konnte zu lesen!
Doch, das Tempo mit der man am Ende der Geschichte ankommt, bedeutet nicht, dass man das Buch nach dem Lesen dann auch schnell zuklappt und vergisst. Es ist gerade diese Gesamtwirkung, die dann nachhallt und dafür sorgt, dass es die Gedanken nicht so schnell wieder verlässt.
Mit seinen 240 Seiten ist das Buch zwar eher kurz und ich muss zugeben, dass ich eher selten Bücher unter 300 Seiten lese, einfach weil ich finde, dass in dieser Länge oft zu wenig Entwicklungspotential der Figuren liegt. Aber Adeline Dieudonné schafft dies in ihrem Coming-of-Age-Roman „Das wirkliche Leben“ mühelos.
Um nicht zu spoilern, möchte ich vom Inhalt gar nicht viel vorwegnehmen.
Der Klappentext lautet:
Eine Reihenhaussiedlung am Waldrand, wie es viele gibt. Im hellsten der Häuser wohnt ein zehnjähriges Mädchen mit seiner Familie. Alles normal. Wären da nicht die Leidenschaften des Vaters, der neben TV und Whisky vor allem den Rausch der Jagd liebt.
In diesem Sommer erhellt nur das Lachen ihres kleinen Bruders Gilles das Leben des Mädchens. Bis eines Abends vor ihren Augen eine Tragödie passiert. Nichts ist mehr wie zuvor. Mit der Energie und der Intelligenz einer mutigen Kämpferin setzt das Mädchen alles daran, sich und ihren Bruder vor dem väterlichen Einfluss zu retten. Von Sommer zu Sommer spürt sie immer deutlicher, dass sie selbst die Zukunft in sich trägt, wird immer selbstbewusster – ihr Körper aber auch immer weiblicher, sodass sie zusehends ins Visier ihres Vaters gerät.
Faszinierend und verstörend zugleich …
Die Art erinnerte mich stellenweise an Lize Spits „Und es schmilzt“. Wahrscheinlich aufgrund der absurd-rau-brachialen Idee und der Erzählweise.
Und doch ist es wiederum ganz anders. Denn hier haben wir es in gewisser Weise mit dem Psychogramm einer dysfunktionalen Familie zu tun. Wobei dies bei Weitem nicht ausreicht, das Gelesene zu beschreiben. Es kommt immer wieder anders als man denkt. Nichts ist vorhersehbar.
Auch bleibt die Rohheit, die Brutalität und Hoffnungslosigkeit nicht das alleinige Merkmal der Geschichte. Denn zwischendurch blitzt auch immer wieder so etwas wie Hoffnung und zarte Schönheit auf. Ja, es liegt irgendwie auch etwas Anmutiges, fast schon Verträumt-sehnsuchtsvolles darin.
„Das wirkliche Leben“ liest sich wie ein Thriller und ist es doch überhaupt nicht. Es ist alles an Emotion, Schmerz, Ausweglosigkeit, Zerbrechlichkeit, aber es ist auch Stärke, Verbundenheit, Entschlossenheit.
Es ist roh und brutal und unverblümt.
Es ist irritierend – genauso wie das Cover.
Es ist verstörend und faszinierend zugleich.
Es ist aufwühlend und mutig.
Es ist nicht gewöhnlich. Ist gewöhnungsbedürftig.
Auch für mich nicht das, was ich sonst alltäglich so lese.
Kein Must-Read in dem Sinne.
Und doch zieht es einen in seinen Bann.
Irgendwie habe ich das Bild eines Rohdiamanten vor Augen, wenn ich daran denke. Roh, sehr roh und doch – dazwischen, in feinen Nuancen, in den Details ein Funkeln, ein wenig Licht, ein Schimmer von Schönheit, von Wachstum und Entwicklung, von Widerstandskraft und Aufbruch.
Ich habe gelesen, dass Adeline Dieudonné sich beim Schreibprozess von Death-Metal-Musik inspirieren ließ. Ich teile ja diese Musikvorliebe und muss sagen, dass ich das regelrecht fühlen konnte. Es passt so perfekt zusammen. Die melodiösen Zwischentöne und das Rohbrachiale, mal im Vordergrund, mal im Hintergrund, alles an Emotion dabei. Ja, (fast) wie „Das wirkliche Leben“ eben.
Fazit
Adeline Dieudonnés Roman „Das wirkliche Leben“ ist wohl nichts für jedermann, wird die Geschichte doch sehr roh und brachial erzählt und ist im ersten Moment verstörend. Jedoch entwickelt sie einen regelrechten Sog und lässt vor lauter Spannung und Nervenkitzel die Luft anhalten und das Erzählte wie in einem einzigen lauten, energiegeladenen Rausch erleben. Und am Ende, wenn dann die Stille eintritt und man sich darauf eingelassen hat, dann wirken auch die Zwischentöne, dann bleibt auch die Kraft darin nicht verborgen.
Keine gemütliche Geschichte, eine die polarisiert, eine Geschichte, die anzieht, die aussagt, die aufzeigt und aufsteht!