Nicole Seifert
FRAUEN LITERATUR
Sachbuch, Kiepenheuer & Witsch, 2021, 224 Seiten
„Literatur wird die Fähigkeit zugeschrieben, den Horizont zu erweitern, Empathie zu fördern, weil man beim Lesen mit Menschen aus anderen Zeiten und Ländern, Menschen anderen Geschlechts und Alters mitfühlt, sich in sie hineinversetzt. Mehr Literatur von Frauen zu lesen, von Schwarzen Menschen, von People of Color, von queeren und anderen marginalisierten Menschen wird an sich nichts an den beschriebenen strukturellen Missständen ändern. Aber es ist eine sehr gute Möglichkeit, das Bewusstsein für Ungerechtigkeiten und Schieflagen zu entwickeln oder zu schärfen“
(S. 57)
Kannst du dich noch daran erinnern, welche Lektüren du in deiner Schulzeit lesen musstest?
Von wem waren die Klassiker, die als Bildungsliteratur angepriesen wurden, geschrieben?
Welche Bücher liest du heute?
Spielt es eine Rolle, von wem diese Bücher geschrieben wurden?
Achtest du auf die Namen der Autor*innen oder ist es eher das Thema, welches darüber entscheidet?
Auch wenn wir im ersten Moment meinen, die Frage nach der Lesepräferenz klar für uns beantworten zu können, ist es, so viel lässt der Buchtitel schon erahnen, am Ende doch nicht ganz so einfach, wie es zunächst scheint.
Die Autorin Nicole Seifert ist promovierte Literaturwissenschaftlerin, gelehrte Verlagsbuchhändlerin, Übersetzerin und widmet sich in ihrem ersten Buch dem Thema Literatur, Frauen und Gesellschaft.
Frauen und Literatur = Frauenliteratur?
Was bedeutet der Begriff Frauenliteratur für dich?
Literatur, die für Frauen geschrieben ist?
Literatur, die von Frauen geschrieben ist?
Oder gar beides?
Von Frauen und auch nur für Frauen bestimmt?
Ist er gar assoziiert mit seichten, trivialen Themen?
Mädchen und Frauen lesen bereits – schon in der Schule beginnend – wie selbstverständlich Werke und „Klassiker“, die von Männern geschrieben wurden. Das ist schließlich ganz „normal“.
Doch wie normal ist es, dass Männer auch ganz selbstverständlich Werke von Frauen lesen?
Ich muss zugeben, ich musste eine ganze Weile überlegen, bis mir ein Werk einer Autorin einfiel, das ich in meiner Schullaufbahn, inkl. Deutsch-Leistungskurs, gelesen habe: es war „Kassandra“ von Christa Wolff. Ein einziges Werk, neben zahlreichen männlichen Werken, die mir alle zuerst einfielen. Eine traurige Bilanz.
Doch andersherum: wenn wir Männern Bücher, die von Frauen geschrieben wurden empfehlen wollen, dann fühlt sich das oftmals komisch an, als könnte das nicht passend sein, nicht passend genug empfunden werden.
Nur ein Bauchgefühl? Ein individuelles Gefühl? Nein, keineswegs, wie Nicole Seifert in „Frauenliteratur“ aufzeigt.
Wie kommt es also, dass Männer die Werke von Frauen meiden?
Dass diese Werke teilweise sogar verächtlich besprochen werden, die Inhalte belächelt, als trivial, banal oder kitschig bewertet werden?
Warum finden Werke von Frauen (und übrigens auch von BIPoC oder queeren Menschen) noch immer so wenig Beachtung in Besprechungen oder gar einen Weg in den Literaturkanon?
Auf den ersten Blick sind wir schnell geneigt zu glauben, es läge daran, dass es einfach weniger Literatur von Frauen gab bzw. gibt.
Doch Nicole Seifert lässt in ihrem Buch schon bald erahnen, dass das nicht das Kriterium sein wird.
Schnell wird deutlich, dass hinter solchen Entscheidungen und Wahrnehmungen oftmals eine lange Tradition patriarchaler Denk- und Machtstrukturen steht, die kaum hinterfragt oder gar nicht als Schieflage wahrgenommen werden.
Misogynie und Patriarchale Strukturen
Unsere Sichtweise auf Geschichte, auf Kultur, auf Gesellschaft, Privilegien, Diskriminierung, Sprache, den öffentlichen Raum, Designs, medizinische Forschung, Wahrnehmung, Werte und Umgangsformen, usw. wird geprägt durch Sozialisierung.
Und hier lässt sich nahezu weltweit eine tiefe Verankerung und eine lange Tradition patriarchaler Macht- und Denkstrukturen beobachten. Die Perspektive, aus der Dinge eingeschätzt, betrachtet, bewertet werden, ist (fast) ausschließlich die Perspektive des weißen Cis-Mannes.
Das zeigt sich auch beispielsweise an der Art und Weise wie Geschichte gelehrt wird, wessen Perspektive und Geschichte schon in der Schule und in den Unterrichtsbüchern gelehrt wird (Es ist nicht die Perspektive von z.B. Schwarzen oder Native Americans! Stets ist es der „weiße Mann“, der der „Entdecker“ Amerikas ist, der anderen Völkern „Bildung“ bringt, usw. Und es ist auch nicht die Perspektive von Frauen, es ist die Geschichte von Männern, die in Kriege ziehen, die erfinden, forschen, denken, usw.)
Auch wie die Arbeit, die Erfolge, die Leistung von Frauen (und wiederum auch von BiPoC und Queeren) öffentlich eingeschätzt und bewertet wird, geschieht überwiegend aus der Perspektive des weißen Cis-Mannes.
Kurz: Errungenschaften, egal welcher Form, sei es die Benennung wissenschaftlicher Entdeckungen, Erinnerungskultur in Form von Straßennamen, Denkmälern, Historie, namhafte Künstler oder Komponisten und Musiker oder eben in der Literatur: der Blick ist stets der aus der Perspektive des weißen Mannes.
Sind Männer fürs Erinnern zuständig, erinnern sie sich vor allem an Männer.
Frauen werden nicht automatisch mitgedacht, wenn sie unerwähnt bleiben.
Das bestätigen mittlerweile viele Studien.
Was wir lesen, wie rezipiert wird, wie rezensiert wird, wird dadurch bestimmt, was wir gelernt haben, wie wir sozialisiert sind.
Die Bücher, die zum Bildungskanon gezählt werden, aber auch Rezensionen in Printmedien, Verlagsprogramme und die Verkäufe entscheiden mit über den literarischen Wertekompass.
Doch der spiegelt meist ein männlich dominiertes Kulturverständnis wider.
Ein gesamtgesellschaftliches Bild ergibt: Männliche (weiße) Autoren (oder auch Musiker, Schauspieler, Regisseure usw.) werden häufig als kompetenter, preiswürdiger wahrgenommen. Autorinnen hingegen (oder Regisseurinnen, usw). müssen sich oftmals den Vorwurf gefallen lassen, „trivial“, banal, „kitschig“ zu sein.
Wer ist dafür verantwortlich? Liegt es wirklich an besserer vs. mangelnder Qualität oder liegt es an den männlichen Entscheidungsträgern und Jurymitgliedern? Oder sind damit noch tiefere gesellschaftliche Wahrnehmungsstrukturen verwoben?
Wahrnehmungskultur in Gesellschaft und Literatur
Werden die immer wieder gleichen Titel oder Personen gelobt und hervorgehoben, geht ein wichtiger Teil der Literatur (Kunst-, Kulturgeschichte) verloren. Es wird nicht überprüft, ob die vermittelten Werte relevant sind oder eine Gesellschaft weiterhin repräsentieren.
Das bedeutet jedoch eine Einengung in der Auseinandersetzung, mit Geschichte, mit Literatur, mit der Gesellschaft und mit Privilegien vs. Diskriminierung. Und eine Vermeidung von Verantwortungsübernahme.
Wir lesen, was wir gelernt haben zu lesen und wir übernehmen die Sichtweisen der Entscheidungsträger und deren Werte und das prägt unbewusst auch unsere Wahrnehmung und Haltung zu Themen.
Es lässt sich nicht leugnen: die Qualität von Literatur wird abgesprochen sobald es sich um Themen, handelt, die mit Frauen assoziiert sind: Mutterschaft, Sorge-/Carearbeit, Pflegearbeit, weiblicher Alltag, Empathie.
Während männliche Protagonisten ihre Kämpfe vor allem in der Außenwelt ausfechten, drehen sich die Kämpfe von Frauen gegen ihre Unterdrückung und die gesellschaftlich auferlegten Einschränkungen aufgrund ihres Geschlechts.
Allein die Rezeption schafft hier oft sprachlich bereits eine Wertehierarchie. Denn während Männer nämlich häufig etwas „heldenhaft“ bauen, erschaffen, kämpfen,
„erledigen“ Frauen nur Mutter-, Pflege- und Hausarbeiten oder „verlieren“ sich in „Hysterie und Gefühlswelten“.
Was in der Literatur zu beobachten ist, lässt sich auch auf andere Gesellschaftsbereiche übertragen: die Leistung von Frauen wird weniger honoriert, egal, ob im Ehrenamt, Mutteralltag oder im Beruf.
Auch in helfenden, heilenden Berufen oder den MINT-Fächern: ihren Arbeiten und Forschungen wird weniger Gewicht verliehen.
Gleichzeitig wird bei Frauen, die in der Öffentlichkeit stehen (Politikerinnern, Autorinnen, Musikerinnen, Schauspielerinnen, Moderatorinnen, usw.) nicht selten erst mal das Aussehen, Kleidung, Lebensweise oder Nebenschauplätze „außerhalb des Sujets“ kommentiert.
Das Thema der Geschlechterstereotypen ist politisch.
Diese bilden und halten sich im Kontext einer gesellschaftlichen Normierung und eines wirtschaftlichen Interesses: was Männlichkeit und was Weiblichkeit ist bestimmen nämlich patriarchale Narrative mit langer Tradition und Macht- sowie monetäre Interessen.
Ein Bsp. ist hier das Gendermarketing, das einen reflektierten Blick lohnt: Jungs werden bestärkt, aktiv etwas zu bauen, Mädchen, sich zu schmücken und zu glitzern oder sie erhalten Spielzeug, das mit Hausarbeit/ Muttersein verknüpft ist.
Der „Gameboy“: für beide Geschlechter attraktiv, doch wie wäre es gewesen, hätte sich die Firma für den Namen „Gamegirl“ entschieden?
Doch zurück zur Literatur: Weibliches Schreiben unterscheidet sich also insofern, dass sich Lebenswirklichkeiten unterscheiden, dass es von anderen Voraussetzungen und Lebensrealitäten geprägt ist, soziale politische, ökonomische Erfahrungen mit einfließen.
Die Rolle der Frau in der Gesellschaft ist stets wiederkehrendes Motiv: der Wunsch nach Gleichberechtigung, nach Selbstbestimmung, aber auch unterdrückte Sehnsüchte, äußere Erwartungen, vielleicht sogar Wut auf die misogyne Welt finden hier ihren Ausdruck. Die Erwartungen an ihr Schreiben und schließlich auch deren Rezeption jedoch wird von einem (voreingenommenen) männlichen Blick (male gaze) bestimmt.
FRAUEN LITERATUR
Frauen geraten in Vergessenheit. Wenn das Kulturverständnis männlich geprägt ist.
Es gibt sie, die hochwertige Literatur von Frauen. Und nicht nur Zeitgenössische.
Begibt man sich auf die Suche, dann kommen auch diese „verschollenen“ alten Werke von Frauen ans Licht.
Sie blieben nur deshalb so lange unsichtbar, weil sie von Anfang an abgewertet wurden, in einer männlich dominierten Gesellschaft, in der eine Wertehierarchie von einer stark einseitigen Perspektive aus aufgebaut wurde, die über die Qualität von Werken bestimmte, wie Nicole Seifert in ihrem ausführlichen Blick über die Literaturrezeption und die gesellschaftliche Stellung der Frau über die Jahrhunderte hinweg deutlich macht.
Und diese Spuren ziehen sich bis in die Gegenwart.
Autorinnen und ihre Werke werden anders wahrgenommen und anders rezensiert.
Kritiken sind vielmals an die Erwartungen an das existierende Narrativ von weiblichem Schreiben und an das gesellschaftliche, patriarchale, misogyne Frauenbild gebunden. Nicht selten bleiben sie geschlechtsspezifischen Vorannahmen ausgesetzt und/ oder die Themen werden abqualifiziert, so dass eine angemessene Auseinandersetzung nicht möglich ist.
Ja, es kommen weltweit nach und nach Werke von Autorinnen, BiPoC und queeren Menschen auf den Markt und manch ein Werk erhält inzwischen auch einen Literaturpreis oder findet sogar den Weg in den Kanon der Literaturgeschichte. Doch es ist noch viel Luft nach oben.
Liegt es nun an den Verlagen, die ihre Programme ausgeglichener aufstellen müssten oder an den Redaktionen und Jurys für Buchpreise, andere Schwerpunkte zu setzen? Sind es die Medien, die mit ihren Entscheidungen, welche Bücher öffentlich rezensiert werden, auch darüber entscheiden, welche Autor*innen mehr Beachtung erhalten oder sind es die Kund*innen, die kaufen? Wer beeinflusst wen?
Seifert zeigt, dass in gewisser Weise alle ein Rädchen in diesem Getriebe sind, das sich in einem immer wiederkehrenden Kreislauf wiederholt. Und dass es einer gesamtgesellschaftlichen Umstrukturierung bedarf.
Einer Umstrukturierung, in der der Blick auf Leistung und die Erfolge von Menschen nicht mehr an privilegierte Gruppen gebunden oder von ihnen abhängig ist.
Es bedarf einer Umstrukturierung, in der wir Werte neu überdenken, die Perspektive einmal (oder mehrfach) wechseln, in der Privilegien überprüft werden, in der wir laut werden angesichts von Diskriminierung und Ungleichbehandlung.
Daher dürfen wir in Zukunft auch den Begriff „Frauenliteratur“ streichen und offen sein für die Vielfalt an Perspektiven und Kreativität, die es zu entdecken gibt! Und das gilt im Übrigen nicht nur für die Literatur!
Mehr von Nicole Seifert findest du auf ihrem Literaturblog „Nacht und Tag“
Das Buch habe ich mir kürzlich gekauft. Ich bin schon sehr gespannt drauf.