Knaur | Roman | 2018 | 460 Seiten
„Ein Spielzeugmacher muss vor allem eine unantastbare Wahrheit achten: Wir alle waren einmal Kinder, egal, wer wir als Erwachsene sind oder was wir getan haben, wir waren alle Kinder, die schon glücklich waren, wenn sie einen Ball gegen eine Wand werfen konnten.“ / S.168
Als ich dieses Buch begonnen habe, konnte ich so gar nicht einschätzen, in welche Richtung mich die Reise führen würde. Klappentext, Cover und Titel ließen mich auf einen eher historisch angehauchten Roman mit nostalgischem Flair schließen. In meiner Bücherei war das Buch aber unter Fantasy eingeordnet. Und so war ich recht gespannt, was mich nun erwarten würde. Und in der Tat führte mich das Buch zurück ins England der frühen Jahre des 20. Jahrhunderts. Und dabei gibt es auch einen Hauch von Fantasie. Einen Hauch.
Das Buch ist tatsächlich gleichzeitig voller Magie! Es ist seine ganz eigene und einzigartige Fantasie, die das Buch so besonders, so magisch macht. Es ist vor allem der Zauber der Worte. Das Mäandern mit Worten und Bildern auf allen Ebenen. Das Feuerwerk an Emotionen, Farben und Kontrasten, die diese mit sich bringen. Und der Zauber, der in den kleinen Dingen liegt. Oder auch darin, das Leben wieder aus den Augen der Kleinsten zu betrachten, mit den Augen eines Kindes.
Ein Konzept, das so wunderbar poetisch, fantasievoll und umfassend ist, dass es ganz große Kunst ist!
Ich war total begeistert von der Umsetzung!
So beginnt die Geschichte …
… mit Kathy, die mit ihren 15 Jahren an der Schwelle des Erwachsenseins steht: nicht mehr ganz Kind und doch noch nicht erwachsen genug, und gleichzeitig: deren Kindheit doch von jetzt auf gleich endet, als sie erfährt, dass sie schwanger ist und aus dem Elternhaus fortgestoßen wird. Wie der Zufall (oder doch eine heimlich helfende Hand, wer weiß das schon?!) es will, tritt sie, heimat- und perspektivlos aus dem nebelverhangenen, regengrauen London in die leuchtende, bunte Landschaft des Spieleladens von Papa Jack: dem Emporium.
Dort trifft sie auf die beiden Brüder Kaspar und Emil, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Kaspar, der mit seinem Charme alle Herzen anrührt, den scheinbar nichts aus der Bahn werfen kann und dem scheinbar alles gelingt, und den jüngeren Emil, der zu diesem aufschauend, sehr sensibel, zurückhaltend und gleichwohl hilfsbereit ist und doch immer im Schatten seines Bruders zurückbleibt.
Und während Kathy dort bei ihnen ein Zuhause, Wärme und Freundschaft findet und ins blühende Leben eintaucht verändert sich draußen die Welt und bringt den Tod mit sich: der Krieg beginnt. Und er wird auch vor den Toren des Emporiums nicht Halt machen …
Vieles verändert sich, manches überdauert und doch bleibt nichts wie es war.
Ein Hauch Magie und so voller Magie …
Das Buch lebt nur so von der Polarität der Dinge, vom Wechselspiel der Gegensätze:
Vor dem Hintergrund des ersten Weltkriegs erzählt Robert Dinsdale eine bunt schillernde Geschichte.
Eine Geschichte, die erzählt vom Kind sein und Erwachsen sein.
Vom Unsichtbar sein und vom Gesehen werden.
Von grausamer Realität und fantasievollem Spiel.
Von Vertrauen und von Verrat.
Von großen und von kleinen Kriegen.
Von äußeren und von inneren Konflikten.
Von Fremdbestimmung und Selbstbestimmung.
Von Weiterentwicklung und vom Erstarren.
Von sehnsuchtsvollen Zukunftsträumen und grausamen Erinnerungen.
Vom Verändern und vom Bleiben.
Vom Lieben und vom Loslassen.
Aber es ist nicht nur das Spiel mit den Gegensätzen, das die Geschichte so besonders macht, sondern auch und gerade vor allem das, was dazwischen liegt. (Das erinnerte mich stellenweise ein wenig an Maja Lundes Eine Weihnachtsgeschichte)
Übergänge gehen so schnell und doch oft – so langsam und unbemerkt vonstatten. Wie unscheinbar, wie fließend verwischen die Grenzen. Und wie nah liegt so manches beieinander, das so fern scheint. Aus Zuneigung kann Verletzung, kann Bitterkeit entstehen und letztendlich zu Hass werden. Aber auch: aus Zuneigung kann Freundschaft, kann Verständnis, Empathie, kann tiefe Liebe entstehen. Wie aus einem Kind eine Frau wird, und dann eine Mutter und das doch nicht bedeuten muss, dass das eine das andere ablöst, wenn genau diese junge Mutter es ist, die die Welt wieder mit den Augen ihres Kindes sieht.
So schließt sich der Kreis. So ist alles eins und doch im Fluss. Es gibt nicht nur schwarz und weiß.
Das Konzept – die stete Wiederkehr der Dualität auf der einen Seite und das Verwischen von Grenzen auf der anderen Seite, auf großen und kleinen Schauplätzen, im innen, wie im außen, das ist hier ganz große Kunst und meisterhaft umgesetzt! Denn es zieht sich nicht nur durch das ganze Buch, sondern zeigt sich auch auf allen Ebenen: inhaltlich, sprachlich, stilistisch, metaphorisch, und sogar auf der Meta-Ebene, so dass es bisweilen scheint, als spreche der Autor/ der Protagonist nicht nur zu einem der Charaktere, sondern geradewegs zu den LeserInnen selbst.
Und am Ende durchdringt die Botschaft nicht nur die Buchseiten und die Herzen der Menschen, die wir darin begleiten, sondern auch geradewegs das Herz der LeserInnen selbst. Und das geschieht so ganz sanft und magisch, dass es bei diesem Buch auch gar nicht anders sein könnte.
„Einem Menschen können die schrecklichsten Dinge zustoßen, aber er wird sich nie verlieren, wenn er sich immer daran erinnert, dass er einmal ein Kind war.“ / S.169
Fazit
Robert Dinsdale bringt uns zurück in ein kaltes und nebelverhangenes London Anfang des 20. Jahrhunderts von dem aus wir die schillernde Welt des Spielzeugladens „Emporium“ betreten und eintauchen in eine Welt voller Magie, Farben und Emotionen.
Für kurze Momente reisen wir mit den Figuren zurück ins kalt-grausame Sibirien um 1870 und begleiten sie auf ihrem Weg bis in die 1950er Jahre.
Die Umsetzung ist ganz große Kunst, sprachlich und stilistisch überaus begeisternd! Dieser nostalgisch anmutende Roman voller Wortgewandtheit mit einem Hauch von Fantasie erzeugt ein Feuerwerk an Bildern und erzählt vom Zauber der Kindheit, vom Kindsein und vom Erwachsenwerden.
Es geht darum, die Welt wieder mit den Augen eines Kindes zu betrachten: überall den Hauch von Magie zu entdecken, die dem Leben innewohnt, das Staunen nicht zu verlieren, die Freude über die kleinen Momente des Glücks beizubehalten. Das Außergewöhnliche im Gewöhnlichen sehen zu können. Es geht darum, dem eigenen Herz zu folgen, egal, ob es große Wellen schlägt oder ganz kleine Dinge sind. Und uns mit unserem eigenen Herzen zu verbinden und diese Verbindung nie zu verlieren.
„Es ist alles eine Frage der Perspektive, erinnerte sich Cathy an das, was Kaspar ihr über Magie erzählt hatte.“ / S.153
Hiermit wünsche ich Euch nun eine wunderbare, zauberhafte, magische Weihnachtszeit!
Das Buch habe ich auch dieses Jahr gelesen und fand es großartig!
Ein außergewöhnliches Buch.
Liebe Grüße
Petrissa
Ach, wie schön, dass du es kennst und auch so großartig fandest wie ich! 🙂
Ich liebe Bücher, die mit Worten so poetisch und magisch verzaubern, wie es dieses hier tat!
Sprache macht viel aus, aber auch inhaltlich war es ganz besonders!
Lg, Kathrin